1979 kam die vierteilige US-amerikanische Fernsehserie
"Holocaust" in's
westdeutsche Fernsehen. Mit der Serie kam auch das Wort "Holocaust"
in den allgemeinen Gebrauch deutscher Muttersprachler. Zuvor war das Wort nur
relativ wenigen Wissenschaftlern geläufig gewesen, es kommt aus dem
Altgriechischen ὁλόκαυστος - holókaustos
- und bedeutet ursprünglich "vollständig verbrannt", auch (religiöses)
"Brandopfer" (von Tieren). 1985 kam der zweiteilige Dokumentarfilm
"Shoah" in den
deutschen Sprachraum, "Shoah" war ein Begriff den vordem fast
ausschließlich Juden und Judaisten kannten. Das hebräische Substantiv שׁוֹאָה Shoa bezeichnet in
der Bibel (Jes. 10,3 EU) eine von Gott gesandte
ausländische Bedrohung des Volkes Israel, übersetzt als "Unheil" oder
"Heimsuchung". Davon ausgehend bezeichnet es allgemein für ganze
Völker existenzbedrohende Geschichts- oder Naturereignisse, übersetzt etwa als
"große Katastrophe", "Untergang" oder
"Zerstörung".
Beide Wörter wurden damals nahezu verzögerungsfrei in den
deutschen Wortschatz aufgenommen, ganz so als hätte man auf ihr Erscheinen
gewartet. Im SPIEGEL-Archiv taucht "Shoah" erstmalig 1986 auf,
nachdem der Film von Lanzmann also in Deutschland gezeigt worden war. Zuvor
scheint das Wort also auch in den führenden Medien nicht im Gebrauch gewesen zu
sein. Ähnliches gilt für "Holocaust", hier ist der früheste Treffer
im SPIEGEL-Archiv von 1977 - eine Meldung, daß in Berlin einige Szenen für die
amerikanische Fernsehserie "Holocaust" gedreht würde. Daß ich nicht
lüge: Es gibt einen Ausreißer aus dem Jahre 1962. "Seine (Kennedys; T. R.)
besondere Vorliebe gilt kontrapunktischen Wendungen, von denen er (oder sein
Ghostwriter Theodore Sorenson) eine ganze Reihe erfunden hat, um seine
Grundthese auszudrücken: eine "Wahl zwischen Demütigung und
Zerstörung" (humiliation and holocaust), eine "Wahl zwischen Kapitulation und totalem Atomkrieg" (surrender
and all-out nuclear war), eine "Wahl zwischen schmählichem Rückzug und unbegrenzter
Vergeltung" (inglorious retreat and unlimited retaliation)."
Sprachverschleierung
Ich habe die Wörter Shoa
und Holocaust viele Jahre lang
benutzt, ohne mir was dabei zu denken. Ich benutze sie weiter, auch hier einer
Gewöhnung folgend, aber ich kann sie nicht mehr so unbefangen verwenden wie
zuvor. Vor etlichen Jahren nämlich ist mir aufgegangen, wieviel
Verschleierungspotential für einen deutschen Muttersprachler in diesen beiden
Wörtern steckt. Diese Bemerkung wird manchem rätselhaft vorkommen, ich sollte sie
erklären.
In einem zu Recht weithin unbekannten österreichischen
Internet-Forum beklagte sich einst eine Userin, es würden gerade diejenigen,
"die sich die Toleranz so demonstrativ auf´s Hirn nageln" (...) "alles, was nicht in ihr Weltbild passt,
reflexartig als böse, rechtsextrem, xenophob, menschenverachtend und was weiß
ich noch alles diffamieren."
Allen Kommunikationspsychologen hier fällt natürlich sofort
das Wort "xenophob" auf.
Das Wort ist griechischen Ursprungs und heißt auf Deutsch so viel wie
"fremdenfeindlich". Die Frage ist: Warum verwendet die Userin, die
sonst gar nicht zu übermäßigem Fremdwortgebrauch neigt, so ein Wort?
Von der Keuschheit der lateinischen
Sprache
Mein (Kommunikations-)Psychologie-Professor von anno
seinerzeit - im übrigen ein Schla-Wiener, das nur nebenbei - hat dergleichen
unnötigen ([1])
Fremdwortgebrauch als "Flucht ins keusche Latein" bezeichnet: Jemand
verwendet Fachtermini gerne dann, wenn er über kitzlige, ihm peinliche Dinge
spricht, oder wenn er - wie in der Fußnote angerissen - selber nicht so genau
weiß, wovon er eigentlich spricht.
Ein Wort aus einer fremden Sprache hat im Deutschen nämlich nicht
diese unmittelbaren und manchmal drastischen Beiklänge (Konnotationen) wie ein
deutsches Wort. Das Wort "Koitus"
ist klinisch sauber, "Ficken"
oder selbst das neutralere "Geschlechtsverkehr" dagegen sind sehr
viel konkreter, laß sagen schmuddeliger. "Faeces" hört sich netter an als "Scheiße".
In Wörtern aus dem Lateinischen, Griechischen oder einer
anderen Fremdsprache steckt sehr viel mehr Verschleierungspotential als im
entsprechenden deutschen Wort. Ein Fremdwort nämlich bringt bei einem deutschen
Muttersprachler nichts bzw. nur sehr wenig zum Klingen. In vielen Fällen macht genau
das Fremdwörter so attraktiv, weil klinisch steril.
Einmal in der deutschen Sprache angekommen, haben "Shoah" und "Holocaust" rasend schnell das zuvor
verwendete Wort "Judenvernichtung" auf die
Plätze verwiesen. Weil? Weil "Shoah"
und "Holocaust" einem
deutschen Muttersprachler so schön angenehm - weil fremdsprachig und also
abstrakt - aus dem Mund flutschen, während "Judenvernichtung" in
seiner Brutalität (weil Bildkraft) richtiggehend ins Hirn schneidet.
Schriebe ich in einem Zeitungsartikel "...und sie
feierten ausgelassen das Shoahfest", ich wäre neugierig, wie viele Leser
überhaupt darüber stolpern und, falls ja, wie lange sie brauchen, um zu merken,
warum da was nicht stimmt.
"Bei der Defäkation
hebt der Priester beide Hände zum Himmel und ruft..." - wieder so ein
Satz, bei dem viele Leute gar nichts oder erst nach ein, zwei Stutzsekunden
etwas merken. Defäkation ([2])
klingt so vornehm, es könnte auch Teil eines religiösen Rituals sein.
Ein Witz, zwo, drei:
Eine Dame aus Husum ist zum ersten Mal in ihrem Leben in
Hamburg. In der Nähe der Landungsbrücken sieht sie einige ziemlich
aufgedonnerte Frauen herumstehen. Sie frägt einen Polizisten.
"Sagen Sie mal, Herr Schutzmann, was sind denn das für
Frauen da drüben?"
"Die? Ach das sind Prostituierte."
"Prostituierte?"
wiederholt die Frau nachdenklich. "Na, ob da man nich 'n paar Nutten bei
sind."
"Prostituierte"
hört sich in der Tat an wie ein akademischer Titel.
Was ich oben schrieb gilt, wohlgemerkt, für
die deutsche Sprache und einen deutschen Muttersprachler. Wer dagegen hebräisch
spricht, für den hat Shoah eine völlig andere Konnotation (Nebenbedeutung). Der
Hebräischsprecher denkt automatisch die ihm vertraute ursprüngliche Bedeutung
des Wortes (Unheil, große Katastrophe)
mit, wenn er das Wort benutzt. Im Deutschen ist es vorerst ein noch wenig
vertrautes Kunstwort, ähnlich wie Wrdlbrmft.
Ovid
Das Schlußwort gehört Ovid. Ovid, der alte Charmeur und
Schönschwätzer (Küß die
Hand, schöne Frau, Ihre Augen sind so blau, tirili, tirilo, tirila) meinte
einst in seiner "Ars amatoria"
(Von der Kunst des Fickens):
Es ist eine feine
Sache, die Übel zu mildern, indem wir sie anders benennen: Als braun werde die
bezeichnet, deren Blut (eigentlich: Haut) schwärzer ist als illyrisches Pech;
Schielt sie, so heiße sie "der Venus gleich"; sind ihre Augen
graugelb, so gleiche sie Minerva; stirbt sie fast vor Magerkeit, sei sie "schlank";
nenne eine jede, die klein ist, "handlich", die Dicke "vollschlank".
So sei jeder Fehler unter dem benachbarten Vorzug verborgen. ([3])