Mittwoch, 27. Januar 2010

Immer der gleiche Fetzen

Ein ganzes Jahr lang will die Journalistin Meike Winnemuth das gleiche blaue Kleid anziehen, Tag für Tag. Das gleiche, nicht dasselbe, denn um es auch mal waschen zu können, hat sie sich das Ding mehrfach zugelegt. Diese strenge Kleiderordnung ist keine persönliche Marotte von ihr, sie will damit etwas lernen, über Verzicht, so lese ich im SPIEGEL, und über die Frage, was man wirklich brauche im Leben. Und sie will in diesem einen Jahr darüber nachdenken, ob es eher belastet oder bereichert, nicht grübeln zu müssen, was man anziehen soll.

Ich selber, ich muß es gestehen, wäre nie auf die Idee zu so einem Projekt gekommen. Ich praktiziere diese Kleiderordnung nämlich schon seit einigen Jahrzehnten.

Ja, gut, ich trage nicht immer das gleiche Hemd, den gleichen Pulli. Sie wurden im Laufe der Jahre ziemlich unsystematisch erworben und da liegen, bzw. hängen sie nun im Kleiderschrank und warten darauf, daß ich hineingreife, halb zufällig, halb einfach der Reihe nach (das am längsten nicht getragene Hemd kommt als nächstes dran). Die Hose ist allerdings immer die gleiche Jeans in fast identischer Form und Farbe. Punkt, aus.
Als ich seinerzeit den Roman "1984" gelesen habe, habe ich die Leute um ihre Einheits-Trainingsanzüge beneidet. Bequeme, schlabberige Kleidung, die man zuhause und auf der Straße, zu jedem Anlaß tragen kann. Stets ist man angenehm und korrekt gekleidet, keiner schaut einen blöde an, weil man unpassende Klamotten trägt.
Orientalische Reisende, die im 18. Jahrhundert Europa bereisten, konnten sich nicht genug wundern über die Mannigfaltigkeit der hierzulande getragenen Kleidung, Kleidung, die sich noch dazu rasend schnell, innerhalb weniger Jahrzehnte nur, veränderte. Der Orientale trug damals noch die traditionelle Kleidung; Kleidung, die jeder trug. Unterschiede gab es nur - je nach den Finanzen - in den Materialien und beim Pflegezustand.

Nun wird man sagen, diese bräsige Gleichgültigkeit sei mal wieder typisch Mann und man hätte recht damit. Natürlich.
Nur - wenn jetzt eine Frau Tag für Tag immer das gleiche Kleid (oder die gleichen Hosen etc., ich bin da nicht so) trüge, dann würde ich das ohnehin nicht merken, wenn ich sie eh bloß einmal in drei Monaten sähe. Sähe ich sie täglich, so würde es - ich kenne mich - wahrscheinlich viele Wochen dauern, ehe es mir überhaupt auffiele, daß sie immer die gleiche Kleidung trägt.

Hmnja, ich bin unkultiviert, ich weiß.

Dienstag, 26. Januar 2010

Oberpfälzer in Peking und Gewalt in Paris

Die Verpackungskünstlerin Christo und ihr gleichnamiger Mann haben es seinerzeit immerhin geschafft, den Berliner Reichstag einzuwickeln. Vielleicht läßt sich ja eines Tages auch meine Lieblingsvision verwirklichen:

1 Million Oberpfälzer in oberbayerische Tracht mit Nagelschuhen und Wadlstrümpf gekleidet auf dem Platz des Himmlischen Friedens in Peking (nur dort passen annähernd 1 Million Oberpfälzer hin).
Alle Oberpfälzer singen und stampfen dabei rhythmisch auf den Boden:
Mir san mir, mir san mir,
Mir san stärker wia de Stier,
Mir san stärker wiara Bamm,
Wei ma Oberpfäjzer san.
Das alles als erdig-wuchtiger Rap dargeboten, keine Melodei, nur Rüttmus, stampf, stampf.

Der Chinese vor Ort würde sich jedenfalls füglich wundern.

Ach ja, und mein Lieblingsfilm ist auch noch nicht gedreht. Eine Szene daraus:
Militärparade auf den Schamps Elisee, Panzer, Raketen, Soldaten im Gleichschritt, Militärmusik. Zum Wamps-Bamps-Wamps-Rhythmus der Marschmusik hebt eine Stimme zu singen an:
Mit Gewalt geht alles besser,
Mit Gewalt wird alles gut,
Mit Gewalt paßt Erwins Mutter,
Auch der allerkleinste Hut.
Bei der letzten Zeile laufen drei oder vier Soldaten zum Publikum rüber, greifen sich eine ältere Dame und stülpen ihr mit Gewalt Adenauers Pepitahut über den Kopf. Gelächter und Beifall vom Restpublikum.

Die vier Zeilen werden wiederholt und wiederholt. Bei den Soldaten machen sich grobe Neckereien breit, die sich nach und nach in handfeste Schläge verwandeln. Johlen und Beifall vom Publikum. Auch der Staatspräsident auf der Tribüne klatscht in gepflegter Heiterkeit. Die Schlägereien unter den Soldaten werden gröber, Messer werden gezückt, Soldat sticht auf Soldat ein, Blut fließt, Soldaten sinken tot oder sterbend zu Boden. Das Publikum wird immer besser gelaunt, man klatscht und jubiliert, aus vieltausendfacher Kehle singt jetzt das Publikum das obige Lied, ein Donnerbrausen liegt über der Stadt.
Fröhlich und gutgelaunt laufen einige der Soldaten, als Gewalttäter verkleidet, hinauf zur Tribüne, zerren den Präsidenten, immer weiter singend, herunter und hacken ihm auf der Straße mit einem Buschmesser den Kopf ab.
Ein Lied, zwo, drei:
Mit Gewalt geht alles besser,
Mit Gewalt wird alles gut,
Mit Gewalt paßt Erwins Mutter,
Auch der allerkleinste Hut.

Ein zeit- und sozialkritischer Film, aufrüttelnd und von beschwingter Musik erfüllt. Mehr kann man von einem guten Film nicht erwarten und sollte es nicht.

Montag, 25. Januar 2010

Verkehrszeichenwechsel oder Die Macht der Kunst

Die Älteren werden sich womöglich noch dran erinnern, daß das Verkehrszeichen für "Gehweg" früher so aussah:
Das war so und das war gut so und keiner hat sich dran gestört. Ab Mitte der sechziger Jahre kamen die Kommissar-Beck-Krimis des Autorenpaares Maj Sjöwall und Per Wahlöö heraus und sie wurden auch in Deutschland schnell ein Riesenerfolg. Einer der Romane trug den Titel "Der Mann auf dem Balkon" und handelte von einer Kindesentführung mit sexuellem Mißbrauch und Tötung des Kindes.
Das Titelbild der damaligen Ausgabe bei rororo sah so aus:
Ein Geniestreich des Graphikers; der Zusammenhang zwischen Verkehrszeichen und Photo springt einem sofort ins Auge, noch ehe man weiß, um was es in diesem Roman geht.
Der Roman, oder genauer: das Titelbild zu diesem Roman, hatte Folgen. Relativ bald nach Erscheinen des Buches wurde die graphische Gestaltung des Verkehrszeichens geändert:

Mittwoch, 20. Januar 2010

Der Stuhlgang als Schöne Kunst betrachtet

Dem Klo haftet der Ruf an, immer schon ein sehr demokratischer Ort gewesen zu sein. Hierhin, heißt es, gehe selbst der König zu Fuß. Bei der Ausstattung dieses demokratischsten aller Orte aber gehen bereits wieder die Unterschiede los. Das geht vom simplen Donnerbalken über das Plumpsklo bis hin zum modernen WC. Und dann gibt es da noch besondere Hajsl.
Ein ganz besonderes Hajsl ist das Klo "Dagobert" der Firma Herbeau. Der Luxus-Leibstuhl ist aus massivem Eschenholz, der Name bezieht sich auf den Merowingerkönig Dagobert aus dem 8. Jahrhundert.


Wenn du den Klodeckel hebst ertönt das Lied "Le Bon Roi Dagobert", wenn du an der Spülkette ziehst, rauscht nicht nur das Wasser, es kündet auch Glockenklang vom Ende der Sitzung. Schlappe 14.123,00 Dollar und das Ding gehört dir.
http://www.herbeau.com/Products.aspx?Item=5501

Wünsche gute Verrichtung.

Montag, 18. Januar 2010

Bauen mit neuen Lösungen

Die alte Hofmark Gern, in der ich aufgewachsen bin, ist heute längst nach Eggenfelden eingemeindet. Das Haus auf einer Insel im Gerner Weiher, das früher von den Grafen von Lösch bewohnt wurde, ist heute Sitz einer Consultingfirma. Der dem Grafen gehörende Gutshof, in dem noch in meiner Jugend Pferde und Rinder gehalten wurden, und in dem die Schloßbrauerei Gern eigenes Bier herstellte, ist heute verfallen. Das heißt, nicht ganz. Teile davon wurden restauriert und unter dem Namen "SchloßÖkonomie Gern" zu einem Kulturzentrum umgebaut, mit Musikschule, Ausstellungs- und Versammlungsraum.
Die alte Brauerei allerdings sieht wirklich übel aus. Und dort, gerade dort hat eine Baufirma ihren Werbespruch an einer Tür angebracht:
Bauen mit neuen Lösungen

Mittwoch, 13. Januar 2010

Über die Vergeblichkeit menschlichen Mühens

Beim Film ist es wie bei so vielen Sachen im Leben: Vieles wird dir vollmundig angepriesen und erweist sich dann als der allerletzte Scheisendreck, während du über die wahren Perlen der Filmkunst oft nur zufällig stolperst.

Über den Kurzfilm "The Day Shit happened" von Hannes Appell bin ich beim absichtslosen Hopsen von Spot zu Spot bei Youtube gestolpert. Knappe sechs Minuten lang ist dieser Animationsfilm und die Story ist schnell erzählt.

Ein Haufen Scheiße liegt auf einem Parkplatz am Rand einer Straße, mitten in der amerikanischen Wüste. Britzel, britzel, zonk und neben dem Haufen materialisiert sich ein Hi-Tech-Scheißhaufen mit Satellitenantenne und sonstigem Klimbim. Das Scheiß-Ufo kommt, so stellt sich schnell heraus, aus der Zukunft und hat für den überraschten Filmhelden eine Botschaft. In exakt drei Minuten werde Mr. President hier vorbeikommen und beim Pinkeln am Wegrand in eben diesen Haufen treten. In seiner Verärgerung werde er eine Haßkampagne gegen die Scheiße starten. "Weg mit die Scheiße von unseren Straßen!" Scheiße überall werde verfolgt, gequält, eingetütet, weggeworfen. Der Kreislauf der Natur kollabiere, Düngerknappheit, Hungersnot und schließlich - der Dritte Weltkrieg. All das könne er, der stinknormale, auserwählte Scheißhaufen verhindern, indem er sich 50 cm weiter bewege, weg vom Asphalt.

Unter Aufbietung aller Kräfte und Willenskräfte gelingt es der bereits festgekackten Scheiße, sich doch noch von der Stelle zu bewegen, während die Kolonne des Präsidenten bereits anrollt. Die Gefahr ist gebannt! Aber...

Hmnja, das ist einer der Filme, die man nicht zu Ende nacherzählen sollte, der Schlußpointe willen. Vor allem, wenn selber anschauen so einfach ist.

Sollte das mit dem eingebetteten Video nicht so recht funktionieren, so kann man sich den Film auch über diesen Link anschauen.

Ich habe die frühen Filme von Rainer Werner Fassbinder gesehen, der Mann hat mit noch nicht mal gequirlter, sondern naturbelassener Scheiße eine Weltkarriere gemacht. Wenn die Welt noch nicht völlig verrückt ist, dann sollte Hannes Appell eine Super-Karriere vor sich haben.

Sonntag, 3. Januar 2010

Vornehm, vornehm

Als wir seinerzeit, schon lange her, nach Castellabate gezogen waren, konnte ich erstmals den Fürsten sehen, quasi in Zivil, also außerhalb der Rahmenbedingungen, unter denen ich ihn sonst gesehen habe.
Wer "der Fürst" ist?
Als wir das erste Mal in Castellabate Urlaub gemacht hatten, das ist noch länger her, ist mir auf dem Weg vom Strand zum Hotel "Madonna della Scala" dieser Mann aufgefallen. Fast jeden Tag hat er in einer kleinen Parkbucht Feigen feilgeboten. In Süditalien ist das nichts Ungewöhnliches, vor allem im Sommer bieten alle möglichen Leute alle möglichen Sachen am Straßenrand an, ob nun aus dem Auto heraus oder aus neben ihnen stehenden Kisten.
Dieser Mann saß bequem auf einem Klappstuhl im Schatten und wartete auf Kundschaft. Ein schon etwas älterer Mann, mit kurzgeschnittenem, grauen Haar, grauem Schnauzbart und brauner Haut. Nicht die gepflegte Bräune des Strandes, sondern jene dunklere der Arbeit auf dem Feld. Ein Bauer. Wie er so, die Beine übereinandergeschlagen, die Arme vor der Brust verschränkt, den Blick aufmerksam auf seine Umgebung gerichtet, strahlte er eine gelassene Würde und ein ganz selbstverständliches Selbstbewußtsein aus. Diesen Mann in ein erstklassiges Gewand gesteckt, auf einem kostbaren Sessel postiert - und jeder würde in ihm einen Fürsten aus uraltem Adelsgeschlecht sehen. Einen, der von Kindesbeinen an gewohnt ist, daß man ihm mit Ehrerbietung begegnet.

Vor vielen Jahren war mal im "stern" eine Photoserie zu sehen. Ein Photograph, den Namen habe ich leider vergessen, hatte Penner von der Straße geholt. Er ließ sie waschen, pflegen und steckte sie dann in Kleidung, die für sehr reiche und vornehme Männer üblich sind. So ließ er sie nun als Herren posieren und photographierte sie. Hätte man nicht die Photos der Herren im "Originalzustand" danebengestellt, man wäre nie auf die Idee gekommen, es könnte etwas nicht stimmen mit diesen Lords.

Und dann lohnt sich ein Blick auf diese vier Galgenvögel. Wie man aus den Namensschildchen erkennen kann, handelt es sich um Polizeiphotos und es wäre ein nettes Gesellschaftsspiel, auf einer Party raten zu lassen, wegen welcher Verbrechen diese Leute in Polizeigewahrsam gekommen sind.


Nun, es handelt sich um Vorstandsmitglieder der IG Farben, nach dem Krieg wegen Verbrechen gegen die Menschlichkeit angeklagt und verurteilt. Allesamt haben sie nach kurzer Haftzeit ihre Karriere in der Bundesrepublik Deutschland fortgesetzt. Aber das ist eine andere Geschichte. Eine traurige Geschichte. (1)
In unserem Zusammenhang ist interessant, daß anscheinend Vornehmheit, Selbstbewußtsein und all die schönen Dinge, durch die sich unser Führungspersonal auszeichnet, von der Situation abhängt, in der sich ein Mensch befindet. Im Gefängnis sitzend, wie Strolche behandelt, sehen die Herren nicht mehr wie Herren aus, sondern wie Strolche.

Wenigen nur ist es gegeben, auch in mißlicher Lage noch inneren Glanz auszustrahlen.
Hier die richtigen Namen der Herren, in einem größeren Zusammenhang.
http://www.gelsenzentrum.de/ig_farben_angeklagte.jpg
_______________  
(1) Wären die Herren seinerzeit in die Hände der Sowjetunion gefallen, man hätte ihnen günstigstenfalls den Kopf vom Rumpf geschlagen, schlimmstenfalls wären sie in Sibirien bei lebendigem Leibe verfault. Es kam anders, die Geschichte ist manchmal sehr, sehr grausam. Generell gilt: Je mehr Verantwortung einer trägt, desto geringer ist die Wahrscheinlichkeit, jemals zur selben gezogen zu werden.

Freitag, 1. Januar 2010

Wie Gott in die Welt kam und warum er blieb

Am 24. 12. 2009, pünktlich zu Weihnachten, war in der Süddeutschen Zeitung unter dem Titel "Der Gottesinstinkt" ein Artikel erschienen, in dem eine wissenschaftliche Theorie über die Entstehung der Religionen referiert wurde.
Vor etwa 73.000 Jahren - heißt es dort - sei auf der Insel Sumatra der Supervulkan Toba explodiert, habe Feuer, Asche und Gift emporgeschleudert und dadurch einen langen Winter auf der Erde verursacht, der ein Massensterben auch bei den Menschen zur Folge gehabt habe.
Auf etwa die gleiche Zeit ließen sich auch die allerersten Spuren menschlicher Religiosität datieren. Womöglich hätten die wenigen übriggebliebenen Menschen unter den extremen Lebensbedingungen dieser Epoche nur deshalb überlebt, weil sie zu neuen, besseren Formen der Kooperation gefunden hätten.
Diese Kooperation sei gefördert worden durch ein neuartiges religiöses Denken. In der großen Kälte der Katastrophe hätten die Menschen zum ersten Mal strafende Götter erdacht, die auf die Einhaltung von Spielregeln achteten. Religion sei also ein Produkt der biokulturellen Evolution. Daten, die Entwicklungspsychologen in Kindergärten des 21. Jahrhunderts erhoben hätten, belegten, daß Glauben nicht etwas sei, was man lernen müsse, sondern ein natürliche Bestreben des Menschen - ein angeborener Gottesinstinkt sozusagen.

Das bedeutet, daß die Götter - später dann der Eine und Einzige Gott - Geschöpfe der Menschen wären, von ihnen erdacht zu ihrem Nutz und Frommen. Der Glaube an Gott oder Götter wäre damit eine Form von Autosuggestion, eine kollektive Wahnvorstellung.
In unserer Zivilisation ist zwar seit dem Ende des Mittelalters die Bedeutung der Religion immer weiter zurückgegangen, weltweit gesehen aber ist Religion immer noch ein Erfolgsmodell. Und auch bei uns spielen seit einiger Zeit Religionen und religionsähnliche Gedankenmodelle wieder eine stärkere Rolle. Die Welt, in der wir leben, erscheint uns längst nicht mehr so sicher und wohlgeordnet wie noch vor wenigen Jahrzehnten:
  • Die Umwelt droht zu kippen.
  • Die Wirtschaft ist ins Schleudern gekommen und die Aussicht auf Stabilisierung ist eher gering.
  • Die lange Zeit von Europa und den USA dominierten Weltgegenden klopfen an unsere Tür und fordern ihr Recht.
Unsicherheit breitet sich aus, Angst.

Angst


Die Angst aber ist mit dem Menschen in die Welt gekommen, als unvermeidliche Folge von Intelligenz.
Ein Tier hat Furcht im Augenblick der Bedrohung. Ist die Bedrohung noch nicht wahrnehmbar, so hat das Tier keine Furcht. Im Gegensatz zum Tier aber hat der Mensch, der mit Geist und Vorstellungskraft begabt ist, die Fähigkeit, auch vor Ereignissen Angst zu haben, die in der Zukunft möglicherweise eintreten könnten. Der Mensch hat Phantasie, er kann sich schreckliche Dinge vorstellen, er kann die Wahrscheinlichkeit des Eintretens von schrecklichen Ereignissen abschätzen und er kann erkennen, daß er nicht vorhersehbaren, sinnlosen Zufällen völlig hilflos ausgeliefert ist.
Ein äußerst probates Mittel gegen die Angst vor dem blinden Zufall ist die Religion. Durch die Erfindung übernatürlicher Mächte bringe ich zum einen Sinn in eine ansonsten sinnlose, von Zufällen beherrschte Welt. Die Notbremse für besondere Fälle, in denen sich partout kein Sinn auffinden lassen will, ist mit eingebaut: Gott wird sich schon was dabei gedacht haben, seine Wege sind unerforschlich.
Zum anderen verleiht der Gedanke, einen übermächtigen (in monotheistischen Religionen gar allmächtigen) Gott über sich zu wissen, der sich um einen kümmert, große Sicherheit in eine äußerst unsichere Welt. Gott ist gleichermaßen ein Beruhigungs- wie ein Aufputschmittel.

Sinn


Gläubige haben eine innere Kraft, die alles hinwegfegt, ihr Glaube verleiht ihnen Kräfte, über die ein Ungläubiger nicht verfügt. Der Ungläubige hat nur dieses eine Leben, der Gläubige dagegen weiß das eigentliche, das richtige Leben noch vor sich. Dort wird er für all die Mühsal dieses Erdenlebens belohnt werden.
Nimm einen Ordensangehörigen, der sein einziges Leben wegwirft, um sich in einem Kloster oder einem Elendshospital zu vergraben. Vom Standpunkt eines Ungläubigen ist der verrückt, für einen gläubigen, wirklich existentiell gläubigen Menschen ist das jedoch eine durchaus lohnende Sache: Sich läppische 70 Jahre hier durch das irdische Jammertal zu fretten, sich dafür aber die unendlich währende Seligkeit im Himmel zu erwerben.
Mutter Teresa liefert eine für sie voll lohnende Nummer! Ebenso der Moslem, der sich in die Luft sprengt und dann in Himmel kommt. Wenn du Mutter Teresa bewunderst oder den Selbstmordattentäter irritiert betrachtest, dann deshalb, weil du diese Glaubenspower nicht bringst, so tief und existentiell wie diese glaubst du nicht. Wärest du so gläubig wie sie, würde dir unmittelbar klar, daß sie das große Los gezogen haben. Die haben ihren Plan: "Wie gestalte ich mir die Ewigkeit genußreich und entspannend" konsequent durchgezogen.
Wo der vernünftige Fürst noch nachdenkt, ob er einen Konflikt riskieren soll, hat der gläubige Fürst den Krieg schon gewonnen, weil ihm Gott selbst den Auftrag dazu erteilt hat. Gläubige sind daher im Zweifelsfall auch sehr viel skrupel- und bedenkenloser als Ungläubige, denn sie haben ein heillos gutes Gewissen, eine Gewißheit, an die der Vernünftige niemals auch nur rankommt.
Gott befriedigt ein grundlegendes menschliches Bedürfnis nach Sicherheit und Sinn.

Gotteserfahrung


Es sage jetzt keiner, Gott sei eine völlig aus der Luft gegriffene, jeglicher Erfahrung widersprechende Idee. Wir alle haben den Lebendigen Gott erlebt, haben seinem Wort gelauscht und seine Wunder gesehen!
Wir saßen auf dem Stuhl und der Schnuller ist runtergefallen und wir hatten keinerlei Möglichkeit, ihn wieder zu bekommen, bis Mama oder Papa kamen und ihn uns mit Leichtigkeit wieder zurückgaben. Wir hatten Hunger und wir froren und Vater und Mutter haben uns mit ihrer Macht, die all unsere Vorstellungen übertraf, Nahrung herbeigeschafft und die Heizung eingeschaltet. Lauter unglaublich phantastische Sachen, die wir selbst unmöglich bewerkstelligen konnten, noch auch nur im mindesten verstanden.
Und eines Tages waren wir erwachsen, mündig und frei. Schön.
Aber wir waren damit auch für uns selbst verantwortlich und haben gemerkt, daß wir viel, viel weniger bewegen können, als wir eigentlich müßten, um uns wirklich beruhigt zurücklehnen zu können. Ach, wie schön wäre es jetzt, wieder ein Kind zu sein und ein mächtiges Wesen über uns zu haben, das sich um uns sorgt. Dafür würden wir gerne unsere Mündigkeit opfern und uns den Geboten dieses mächtigen Wesens unterwerfen. Wenn jetzt ein so gescheiter Mensch wie der Prof. Ratzinger zu dir kommt und dir erzählt, es gebe sehr wohl einen Himmivatta da droben, der sich um dich kümmert, dann hat er leichtes Spiel mit dir.
Wir hatten anfangs gesagt, Religion sei eine Form von Autosuggestion, eine Wahnvorstellung. Wir müssen nun hinzufügen, daß das Konzept Gott einen erheblichen Evolutionsvorteil darstellt. Religiöser Glaube ist eine Form von Wahnsinn, gewiß, aber er ist ein ungemein überlebensförderlicher Wahnsinn. Wäre er das nicht, so hätten sich Religionen längst aus der Evolution gemendelt.
Diese Welt ist so verrückt, daß sie dem Verrückten einen erheblichen Überlebensbonus verleiht!

Widersprüche


Nach diesen Überlegungen sollten wir uns eigentlich alle darum bemühen, den verlorenen Glauben wiederzufinden.
Das sollten wir, in der Tat. Nur - es geht nicht.
Wenn ich mich hinsetze, nachdenke und dann zu dem Ergebnis komme, daß es aus psychohygienischen Gründen vernünftig wäre, an einen Gott zu glauben, für dessen Existenz ich keinerlei Anhaltspunkte habe, dann gerate ich in eine sowohl logische als auch psycho-logische Zwickmühle. Es ist wie mit dem Einschlafen: Wenn du es willst, dann klappt es nicht. Schlaf und religiöser Glaube kommen entweder spontan oder sie kommen nicht.
Das hört sich logisch an, ist aber natürlich Unfug von hinten bis vorne.
Denn siehe, es gibt Theologen, die erforschen im Auftrag ihrer Kirche - auf dem Lehrstuhl für Vergleichende Religionswissenschaft sitzend - die Geschichte des Glaubens, des eigenen Glaubens und des Glaubens der anderen. Sie zeichnen mit großer Sachkunde und bewundernswerter Akribie nach, wie sich religiöse Vorstellungen in der Geschichte der Menschheit entwickelt haben, wie religiöse Motive und Gedanken von einer Kultur zur anderen gewandert sind, wie Glaubensinhalte - auch in der eigenen Religion - sich nach und nach verändert haben. Sie klappen den Laptop, mit dem sie all dies niedergeschrieben haben, zu und gehen in den Dom, um dort Gott, den sie eben noch als ein von Menschen gemachtes Phantom beschrieben haben, um seinen Beistand anzuflehen.
Glaube ist ein tiefsitzendes menschliches Bedürfnis und Verstand hilft nicht gegen Bedürfnisse.

Offenbarungsreligionen


Seit dem modernen Menschen der Glaube an einen Gott und an ein Jenseits abhanden gekommen ist, stufen wir die Glaubensstärke von Menschen gerne in einer Tabelle ab, vom strenggläubigen Fundamentalisten über den nach Glaubensreform rufenden Modernisten bis zum Kirchensteuerheiden.
Die drei großen monotheistischen Religionen - Judentum, Christentum und Islam - sind aber keine Baukastenreligionen, aus denen ich mir je nach Gusto eine Weisheit hier, einen Glaubenssatz da herauspicke, um mir eine private, kommode Individualreligion zusammenzubauen. Es sind Offenbarungsreligionen, ihr Glaubensinhalt ist in Heiligen Büchern festgelegt, an diesen Glaubenssätzen läßt sich nicht deuteln. Wem die Bibel Gottes Wort ist, dem muß sie es ganz sein. Wem die Bibel nicht kompromißlos Gottes Wort ist, mag ein ehrenwerter Mensch sein, ein Christ ist er nicht.
  • Da in der Bibel homosexueller Geschlechtsverkehr verdammt wird, ganz eindeutig verdammt wird, muß sich der homosexuelle Christ, der seiner sündigen Lust nachgibt, im Stande der Sünde sehen. Das Recht, dieses Verbot unvernünftig und unmenschlich zu finden, hat er; aber er hat es nicht innerhalb einer der christlichen Religionsgemeinschaften. Punkt.
  • Das Wort des Apostels Paulus, das Weib habe in der Gemeinde zu schweigen, steht und gilt noch immer. Zwanglos ist daraus abzuleiten, daß Frauen kein Priesteramt in der Kirche ausüben dürfen. Ich finde jede Menge Argumente gegen dieses Verbot in der Vernunft. In der Bibel finde ich sie nicht.
An einer Offenbarungsreligion ist nichts zu reformieren. Sie steht. Sie steht entweder ganz da oder gar nicht. Wer einen in den Heiligen Büchern formulierten Glaubenssatz aus ihr herausbricht, bringt das ganze Gebäude des Glaubens zum Einsturz.
Ich bin demnach entweder ein strenggläubiger Fundamentalist oder ich stehe bereits außerhalb des Glaubens.

Änderungstheologen


Ich weiß auch, daß diese Beschreibung von Religiosität nicht die empirische Wirklichkeit wiedergibt. Diese Wirklichkeit ist vielmehr ein rechtes Durcheinander. Jeder holt sich aus der Bibel, aus der Überlieferung, das heraus, was ihm in den Kram paßt und tut das andere achselzuckend als "irgendwie merkwürdig" ab. Die Kirchengeschichte ist der Beweis für die Geschmeidigkeit im Anpassen an die jeweiligen Bedürfnisse. Wenn die Religion irgendwann irgendwo zwickt und zwackt geht man halt zum Änderungstheologen und läßt sie sich umdeuten. Dafür sind diese Leute schließlich da. Fachkundig machen sie den Glauben auf eine geschmeidige Weise passend und behaupten die jeweilige Neuerung dann als ehern seiend und im Grunde immer schon vorhanden gewesen.
Eine liberale, den Neuerungen aufgeschlossene Religiosität ist nichts weiter als eine spirituelle Lebensversicherung. Ein Zipfelchen vom Glauben behältst du in der Hand, nur für den Fall, daß es nach dem Tode doch ein Jenseits geben sollte. Dann zeigst du dein Zipfelchen vor, gibst es für ein ganzes Kleid aus und hoffst, dich damit in die Ewige Seligkeit zu mogeln.
Religiöse Menschen in des Wortes eigentlicher Bedeutung sind Menschen, die sich ein Leben ohne Religion nicht einmal vorstellen können.
Als wirklich religiöser Mensch bin ich religiös in einem tief-existentiellen Sinn. Das Transzendente existiert für mich so, wie das Butterbrot existiert, von dem ich abbeiße. Wenn Gott zu Abraham kommt und ihm sagt, er möchte doch bitte so freundlich sein und seinen Sohn schlachten, dann schultert Abraham das Opferbesteck und macht sich, - seufzend, aber doch - auf den Weg. Das ist Religion und nicht das Entwerfen und immer wieder neue Entwerfen von theologischen Konzepten.



P. S.: Eines meiner Lieblingsstücke (ganz ohne Ironie) ist übrigens "Jauchzet Gott in allen Landen" von J. S. Bach. Ich hab also schon eine Affinität zu Gott, glauben tu ich halt nicht an ihn. Hoffentlich glaubt wenigstens Er an mich.

Verkopfte religiöse Vorstellungen sind nämlich nur sehr bedingt angstlösend und aufhellend. Die volle Dröhnung GOtt bekommst du nur, wenn du ganz existentiell tief an ihn und seine Güte glaubst, wenn Gott für dich so real ist wie die Tasse Tee vor dir. Die Tant Anna (eigentlich die Tante meines Vaters), die damals, als ich noch ein Bub war, etwas über siebzig war, hat sich tatsächlich all die Jahre auf den Tod gefreut, weil sie dann endlich bei Gott wäre. Hätte sie auf ihrer eigenen Beerdigung singen können, sie hätte kein düsteres Requiem gesungen, sondern eine Jubelkantate.
Hier ein Kompromiß, hin im Trauerschlurf, zurück mit Swinggetänzel.
Eine durchaus irdische Form von Auferstehung.