Vor etwa 73.000 Jahren
- heißt es dort - sei auf der Insel Sumatra der Supervulkan Toba explodiert,
habe Feuer, Asche und Gift emporgeschleudert und dadurch einen langen Winter
auf der Erde verursacht, der ein Massensterben auch bei den Menschen zur Folge
gehabt habe.
Auf etwa die gleiche
Zeit ließen sich auch die allerersten Spuren menschlicher Religiosität
datieren. Womöglich hätten die wenigen übriggebliebenen Menschen unter den
extremen Lebensbedingungen dieser Epoche nur deshalb überlebt, weil sie zu
neuen, besseren Formen der Kooperation gefunden hätten.
Diese Kooperation sei gefördert worden durch ein neuartiges
religiöses Denken. In der großen Kälte der Katastrophe hätten die Menschen zum
ersten Mal strafende Götter erdacht, die auf die Einhaltung von Spielregeln
achteten. Religion sei also ein Produkt der biokulturellen Evolution. Daten, die Entwicklungspsychologen in Kindergärten
des 21. Jahrhunderts erhoben hätten, belegten, daß Glauben nicht etwas sei, was
man lernen müsse, sondern ein natürliche Bestreben des Menschen - ein
angeborener Gottesinstinkt sozusagen.
Das bedeutet, daß die Götter - später dann der Eine und
Einzige Gott - Geschöpfe der Menschen wären, von ihnen erdacht zu ihrem Nutz
und Frommen. Der Glaube an Gott oder Götter wäre damit eine Form von
Autosuggestion, eine kollektive Wahnvorstellung.
In unserer Zivilisation ist zwar seit dem Ende des
Mittelalters die Bedeutung der Religion immer weiter zurückgegangen, weltweit
gesehen aber ist Religion immer noch ein Erfolgsmodell. Und auch bei uns
spielen seit einiger Zeit Religionen und religionsähnliche Gedankenmodelle wieder
eine stärkere Rolle. Die Welt, in der wir leben, erscheint uns längst nicht
mehr so sicher und wohlgeordnet wie noch vor wenigen Jahrzehnten:
- Die Umwelt droht zu kippen.
- Die Wirtschaft ist ins Schleudern gekommen und die Aussicht auf Stabilisierung ist eher gering.
- Die lange Zeit von Europa und den USA dominierten Weltgegenden klopfen an unsere Tür und fordern ihr Recht.
Unsicherheit breitet sich aus, Angst.
Angst
Die Angst aber ist mit dem Menschen in die Welt gekommen, als unvermeidliche Folge von Intelligenz.
Ein Tier hat Furcht im Augenblick der Bedrohung. Ist die
Bedrohung noch nicht wahrnehmbar, so hat das Tier keine Furcht. Im Gegensatz
zum Tier aber hat der Mensch, der mit Geist und Vorstellungskraft begabt ist,
die Fähigkeit, auch vor Ereignissen Angst zu haben, die in der Zukunft möglicherweise
eintreten könnten. Der Mensch hat
Phantasie, er kann sich schreckliche Dinge vorstellen, er kann die
Wahrscheinlichkeit des Eintretens von schrecklichen Ereignissen abschätzen und er
kann erkennen, daß er nicht vorhersehbaren, sinnlosen Zufällen völlig hilflos
ausgeliefert ist.
Ein äußerst probates Mittel gegen die Angst vor dem blinden Zufall ist die
Religion. Durch die Erfindung übernatürlicher Mächte bringe ich zum einen Sinn
in eine ansonsten sinnlose, von Zufällen beherrschte Welt. Die Notbremse für
besondere Fälle, in denen sich partout kein Sinn auffinden lassen will, ist mit
eingebaut: Gott wird sich schon was dabei gedacht haben, seine Wege sind
unerforschlich.
Zum anderen verleiht der Gedanke, einen übermächtigen (in
monotheistischen Religionen gar allmächtigen)
Gott über sich zu wissen, der sich um einen kümmert, große Sicherheit in eine
äußerst unsichere Welt. Gott ist gleichermaßen ein Beruhigungs- wie ein
Aufputschmittel.
Sinn
Gläubige haben eine innere Kraft, die alles hinwegfegt, ihr Glaube verleiht ihnen Kräfte, über die ein Ungläubiger nicht verfügt. Der Ungläubige hat nur dieses eine Leben, der Gläubige dagegen weiß das eigentliche, das richtige Leben noch vor sich. Dort wird er für all die Mühsal dieses Erdenlebens belohnt werden.
Nimm einen Ordensangehörigen, der sein einziges Leben
wegwirft, um sich in einem Kloster oder einem Elendshospital zu vergraben. Vom
Standpunkt eines Ungläubigen ist der verrückt, für einen gläubigen, wirklich existentiell
gläubigen Menschen ist das jedoch eine durchaus lohnende Sache: Sich läppische
70 Jahre hier durch das irdische Jammertal zu fretten, sich dafür aber die
unendlich währende Seligkeit im Himmel zu erwerben.
Mutter Teresa liefert eine für sie voll lohnende Nummer! Ebenso
der Moslem, der sich in die Luft sprengt und dann in Himmel kommt. Wenn du
Mutter Teresa bewunderst oder den Selbstmordattentäter irritiert betrachtest,
dann deshalb, weil du diese Glaubenspower nicht bringst, so tief und
existentiell wie diese glaubst du nicht. Wärest du so gläubig wie sie, würde
dir unmittelbar klar, daß sie das große Los gezogen haben. Die haben ihren
Plan: "Wie gestalte ich mir die Ewigkeit genußreich und entspannend"
konsequent durchgezogen.
Wo der vernünftige Fürst noch nachdenkt, ob er einen
Konflikt riskieren soll, hat der gläubige Fürst den Krieg schon gewonnen, weil
ihm Gott selbst den Auftrag dazu erteilt hat. Gläubige sind daher im
Zweifelsfall auch sehr viel skrupel- und bedenkenloser als Ungläubige, denn sie
haben ein heillos gutes Gewissen, eine Gewißheit, an die der Vernünftige niemals
auch nur rankommt.
Gott befriedigt ein grundlegendes menschliches Bedürfnis
nach Sicherheit und Sinn.
Gotteserfahrung
Es sage jetzt keiner, Gott sei eine völlig aus der Luft gegriffene, jeglicher Erfahrung widersprechende Idee. Wir alle haben den Lebendigen Gott erlebt, haben seinem Wort gelauscht und seine Wunder gesehen!
Wir saßen auf dem Stuhl und der Schnuller ist runtergefallen
und wir hatten keinerlei Möglichkeit, ihn wieder zu bekommen, bis Mama oder
Papa kamen und ihn uns mit Leichtigkeit wieder zurückgaben. Wir hatten Hunger und
wir froren und Vater und Mutter haben uns mit ihrer Macht, die all unsere
Vorstellungen übertraf, Nahrung herbeigeschafft und die Heizung eingeschaltet.
Lauter unglaublich phantastische Sachen, die wir selbst unmöglich bewerkstelligen
konnten, noch auch nur im mindesten verstanden.
Und eines Tages waren wir erwachsen, mündig und frei. Schön.
Aber wir waren damit auch für uns selbst verantwortlich und
haben gemerkt, daß wir viel, viel weniger bewegen können, als wir eigentlich müßten,
um uns wirklich beruhigt zurücklehnen zu können. Ach, wie schön wäre es jetzt,
wieder ein Kind zu sein und ein mächtiges Wesen über uns zu haben, das sich um
uns sorgt. Dafür würden wir gerne unsere Mündigkeit opfern und uns den Geboten
dieses mächtigen Wesens unterwerfen. Wenn jetzt ein so gescheiter Mensch wie
der Prof. Ratzinger zu dir kommt und dir erzählt, es gebe sehr wohl einen
Himmivatta da droben, der sich um dich kümmert, dann hat er leichtes Spiel mit
dir.
Wir hatten anfangs gesagt, Religion sei eine Form von Autosuggestion,
eine Wahnvorstellung. Wir müssen nun hinzufügen, daß das Konzept Gott einen
erheblichen Evolutionsvorteil darstellt. Religiöser Glaube ist eine Form von Wahnsinn,
gewiß, aber er ist ein ungemein
überlebensförderlicher Wahnsinn. Wäre er das nicht, so hätten sich
Religionen längst aus der Evolution gemendelt.
Diese Welt ist so verrückt, daß sie dem Verrückten einen
erheblichen Überlebensbonus verleiht!
Widersprüche
Nach diesen Überlegungen sollten wir uns eigentlich alle darum bemühen, den verlorenen Glauben wiederzufinden.
Das sollten wir, in der Tat. Nur - es geht nicht.
Wenn ich mich hinsetze, nachdenke und dann zu dem Ergebnis
komme, daß es aus psychohygienischen Gründen vernünftig wäre, an einen Gott zu
glauben, für dessen Existenz ich keinerlei Anhaltspunkte habe, dann gerate ich
in eine sowohl logische als auch psycho-logische Zwickmühle. Es ist wie mit dem
Einschlafen: Wenn du es willst, dann klappt es nicht. Schlaf und religiöser
Glaube kommen entweder spontan oder sie kommen nicht.
Das hört sich logisch an, ist aber natürlich Unfug von
hinten bis vorne.
Denn siehe, es gibt Theologen, die erforschen im Auftrag
ihrer Kirche - auf dem Lehrstuhl für Vergleichende Religionswissenschaft sitzend
- die Geschichte des Glaubens, des eigenen Glaubens und des Glaubens der anderen.
Sie zeichnen mit großer Sachkunde und bewundernswerter Akribie nach, wie sich
religiöse Vorstellungen in der Geschichte der Menschheit entwickelt haben, wie
religiöse Motive und Gedanken von einer Kultur zur anderen gewandert sind, wie
Glaubensinhalte - auch in der eigenen Religion - sich nach und nach verändert
haben. Sie klappen den Laptop, mit dem sie all dies niedergeschrieben haben, zu
und gehen in den Dom, um dort Gott, den sie eben noch als ein von Menschen
gemachtes Phantom beschrieben haben, um seinen Beistand anzuflehen.
Glaube ist ein tiefsitzendes menschliches Bedürfnis und
Verstand hilft nicht gegen Bedürfnisse.
Offenbarungsreligionen
Seit dem modernen Menschen der Glaube an einen Gott und an ein Jenseits abhanden gekommen ist, stufen wir die Glaubensstärke von Menschen gerne in einer Tabelle ab, vom strenggläubigen Fundamentalisten über den nach Glaubensreform rufenden Modernisten bis zum Kirchensteuerheiden.
Die drei großen
monotheistischen Religionen - Judentum, Christentum und Islam - sind aber keine
Baukastenreligionen, aus denen ich mir je nach Gusto eine Weisheit hier, einen
Glaubenssatz da herauspicke, um mir eine private, kommode Individualreligion
zusammenzubauen. Es sind Offenbarungsreligionen, ihr Glaubensinhalt ist in
Heiligen Büchern festgelegt, an diesen Glaubenssätzen läßt sich nicht deuteln.
Wem die Bibel Gottes Wort ist, dem muß sie es ganz sein. Wem die Bibel nicht kompromißlos
Gottes Wort ist, mag ein ehrenwerter Mensch sein, ein Christ ist er nicht.
- Da in der Bibel homosexueller Geschlechtsverkehr verdammt wird, ganz eindeutig verdammt wird, muß sich der homosexuelle Christ, der seiner sündigen Lust nachgibt, im Stande der Sünde sehen. Das Recht, dieses Verbot unvernünftig und unmenschlich zu finden, hat er; aber er hat es nicht innerhalb einer der christlichen Religionsgemeinschaften. Punkt.
- Das Wort des Apostels Paulus, das Weib habe in der Gemeinde zu schweigen, steht und gilt noch immer. Zwanglos ist daraus abzuleiten, daß Frauen kein Priesteramt in der Kirche ausüben dürfen. Ich finde jede Menge Argumente gegen dieses Verbot in der Vernunft. In der Bibel finde ich sie nicht.
An einer
Offenbarungsreligion ist nichts zu reformieren. Sie steht. Sie steht entweder
ganz da oder gar nicht. Wer einen in den Heiligen Büchern formulierten
Glaubenssatz aus ihr herausbricht, bringt das ganze Gebäude des Glaubens zum
Einsturz.
Ich bin demnach
entweder ein strenggläubiger Fundamentalist oder ich stehe bereits außerhalb
des Glaubens.
Änderungstheologen
Ich weiß auch, daß diese Beschreibung von Religiosität nicht die empirische Wirklichkeit wiedergibt. Diese Wirklichkeit ist vielmehr ein rechtes Durcheinander. Jeder holt sich aus der Bibel, aus der Überlieferung, das heraus, was ihm in den Kram paßt und tut das andere achselzuckend als "irgendwie merkwürdig" ab. Die Kirchengeschichte ist der Beweis für die Geschmeidigkeit im Anpassen an die jeweiligen Bedürfnisse. Wenn die Religion irgendwann irgendwo zwickt und zwackt geht man halt zum Änderungstheologen und läßt sie sich umdeuten. Dafür sind diese Leute schließlich da. Fachkundig machen sie den Glauben auf eine geschmeidige Weise passend und behaupten die jeweilige Neuerung dann als ehern seiend und im Grunde immer schon vorhanden gewesen.
Eine liberale, den
Neuerungen aufgeschlossene Religiosität ist nichts weiter als eine spirituelle
Lebensversicherung. Ein Zipfelchen vom Glauben behältst du in der Hand, nur für
den Fall, daß es nach dem Tode doch ein Jenseits geben sollte. Dann zeigst du
dein Zipfelchen vor, gibst es für ein ganzes Kleid aus und hoffst, dich damit
in die Ewige Seligkeit zu mogeln.
Religiöse Menschen
in des Wortes eigentlicher Bedeutung sind Menschen, die sich ein Leben ohne
Religion nicht einmal vorstellen können.
Als wirklich
religiöser Mensch bin ich religiös in einem tief-existentiellen Sinn. Das
Transzendente existiert für mich so, wie das Butterbrot existiert, von dem ich
abbeiße. Wenn Gott zu Abraham kommt und ihm sagt, er möchte doch bitte so
freundlich sein und seinen Sohn schlachten, dann schultert Abraham das
Opferbesteck und macht sich, - seufzend, aber doch - auf den Weg. Das ist Religion und nicht das
Entwerfen und immer wieder neue Entwerfen von theologischen Konzepten.
P. S.: Eines meiner Lieblingsstücke (ganz ohne Ironie) ist
übrigens "Jauchzet
Gott in allen Landen" von J. S. Bach. Ich hab also schon eine
Affinität zu Gott, glauben tu ich halt nicht an ihn. Hoffentlich glaubt
wenigstens Er an mich.
Verkopfte religiöse Vorstellungen sind nämlich nur sehr bedingt
angstlösend und aufhellend. Die volle Dröhnung GOtt bekommst du nur, wenn du
ganz existentiell tief an ihn und seine Güte glaubst, wenn Gott für dich so
real ist wie die Tasse Tee vor dir. Die Tant Anna (eigentlich die Tante meines
Vaters), die damals, als ich noch ein Bub war, etwas über siebzig war, hat sich
tatsächlich all die Jahre auf den Tod gefreut, weil sie dann endlich bei Gott
wäre. Hätte sie auf ihrer eigenen Beerdigung singen können, sie hätte kein
düsteres Requiem gesungen, sondern eine Jubelkantate.
Hier ein Kompromiß, hin im Trauerschlurf, zurück mit
Swinggetänzel.
Eine durchaus irdische Form von Auferstehung.
Gott vorzustellen, zu denken ist ein unmögliches Unterfangen. Da ich also daran scheitere, lasse ich es und nehme ihn als gegeben.
AntwortenLöschenOb man nun so denkt wie Du oder nicht: Erfrischend zu lesen ist es allemal. Du bist ein begnadeter Scheiber.
Hallo Gunhild,
AntwortenLöschenzunächst mal Dank für das Kompliment.
Wenn meine Überlegungen in dem kleinen Artikel richtig sind (und ich fürchte, sie sind es), dann sind die Konsequenzen daraus wenig erfreulich, sowohl für den Gläubigen als auch für den Atheisten.
Der Atheist muß erkennen, daß er mit Marx- und Engelszungen predigen kann und dennoch mit aller Beredsamkeit und Vernunft die Religion nicht zum Verschwinden bringen kann, solange es jemand gibt, der die Religion braucht. Und der Gläubige wird, wenn er meine Überlegungen nicht restlos von der Hand weisen kann, nie wieder den Stachel des Verdachtes loswerden, daß Gott wahrscheinlich doch nur ein innerpsychisches Phänomen ist.
Ciao
Wolfram