4.6.19

Markus Andel


Ist das ein Temperament?

Micky Maus und Tolstoi

"Es fühlt sich an, als ob ein Regal mit Micky-Maus-Heften gegen Dostojewski und Tolstoi getauscht wurde" twitterte einer, als in Österreich die Zivilisation eingeführt wurde.
Ich mag mir gar nicht vorstellen, wie Österreich jetzt dastünde, wenn damals der Hofer Bundespräsident geworden wäre. Der Leader of the Pack als Sheriff, ein Katastrophen-Szenario.

Der Vollständigkeit halber sei angemerkt, daß der (mir) unbekannte Tweeter offensichtlich von Tolstoi und Dostojewski deutlich mehr Ahnung hat als von Micky Maus. Die deutschsprachigen Micky-Maus-Hefte [1] haben  nämlich das Denken und die Sprache von zwei bis drei Generationen junger Leute ausgesprochen positiv geprägt. Jahre vor der antiautoritären Bewegung waren Tick, Trick und Track respektlose Identifikationsfiguren und Vorbilder der Kinder in den fünfziger Jahren. Sie hatten den Durchblick, sie behielten den Überblick, ihnen gegenüber standen ein vertrottelter Donald und ein nicht minder verblödeter Raffzahn Dagobert. Die Skepsis gegenüber Erwachsenen haben wir seinerzeit früh gelernt.
1951 wurde Dr. Erika Fuchs, die Kunstgeschichte studiert hatte, dazu Archäologie und mittelalterliche Geschichte, Chefredakteurin der Micky-Maus-Hefte. Bis 1988 übersetzte sie die amerikanischen Vorlagen vor allem der Donald-Duck-Geschichten.
Ihre Übersetzungen enthielten - anders als die englischsprachigen Vorlagen - zahllose versteckte Zitate und literarische Anspielungen. So war sie, als hervorragende Literaturkennerin, der festen Überzeugung, man könne als Übersetzerin von Comics nicht gebildet genug sein. Die Nähe zur deutschen Klassik scheint etwa auf, wenn Tick, Trick und Track sich angelehnt an Schillers Version des Rütlischwurs versprechen: "Wir wollen sein ein einig Volk von Brüdern / in keiner Not uns waschen und Gefahr."“Auch der fast immer als ihre Schöpfung bezeichnete Spruch: "Dem Inscheniör ist nichts zu schwör" ist keine eigene Erfindung, sondern eine Abwandlung der ersten Zeile des Ingenieurlieds von Heinrich Seidel.
Von den auf den Wortstamm verkürzten Verben, mit denen nicht nur, wie zuvor bekannt, Geräusche (Onomatopoesie) beschrieben werden (z. B. schluck, stöhn, knarr, klimper), sondern auch lautlose (psychische) Vorgänge markiert werden (z. B. grübel, zitter, schudder), rührt der Ausdruck Erikativ.
Ihr Einfluss im alltäglichen Sprachgebrauch und in der Popkultur ist bis heute enorm.
Erika Fuchs hat in den Augen ihrer Bewunderer mit ihren eigenschöpferischen Übersetzungen eine eigene Welt erschaffen, die in der sogenannten Donaldistik Ausdruck findet. Unter anderem im Feuilleton der Frankfurter Allgemeine Zeitung erscheinen regelmäßig von Erika Fuchs stammende Donald-Duck-Zitate in schöngeistigem Zusammenhang - vornehmlich als Titelzeilen und Bildunterschriften.
Wikipedia hat Dr. Fuchs einen langen Artikel gewidmet, aus dem ich oben zitiert habe.




[1]   Über die amerikanischen Originale weiß ich zu wenig, um darüber eine auch nur leidlich fundierte Aussage zu machen.

Diese vermaledeite Jugend

Mit der heutigen Jugend ist es nicht mehr weit her, das hat schon mein Opa gesagt. Und dem Homer [1] sein Opa ebenfalls.
·           Die Jugend achtet das Alter nicht mehr, zeigt bewusst ein ungepflegtes Aussehen, sinnt auf Umsturz, zeigt keine Lernbereitschaft und ist ablehnend gegen überkommene Werte (ca. 3000 v. Chr., Tontafel der Sumerer).
·           Unsere Jugend ist heruntergekommen und zuchtlos. Die jungen Leute hören nicht mehr auf ihre Eltern. Das Ende der Welt ist nahe (Keilschrifttext, Chaldäa, um 2000 v. Chr.)
·           Die heutige Jugend ist von Grund auf verdorben, sie ist böse, gottlos und faul. Sie wird niemals so sein wie die Jugend vorher, und es wird ihr niemals gelingen, unsere Kultur zu erhalten (ca. 1000 v. Chr., Babylonische Tontafel).
·           Denn der Sohn verachtet den Vater, die Tochter steht wider die Mutter, die Schwiegertochter wider die Schwiegermutter (Micha 7, Altes Testament um 725 v. Chr.)
·           Nicht ist der Vater dem Kind, das Kind dem Vater gewogen. Nicht ist der Bruder lieb, wie er doch früher gewesen; bald versagen sie selbst den greisen Eltern die Ehrfurcht (Hesiod, vor 700 v. Chr.)
·           Die Kinder von heute sind Tyrannen. Sie widersprechen ihren Eltern, kleckern mit dem Essen und ärgern ihre Lehrer (Sokrates, 470-399 v.Chr.)
·           Die Jugend von heute liebt den Luxus, hat schlechte Manieren und verachtet die Autorität. Sie widersprechen ihren Eltern, legen die Beine übereinander und tyrannisieren ihre Lehrer. (Sokrates, 470-399 v.Chr.)
·           ...die Schüler achten Lehrer und Erzieher gering. Überhaupt, die Jüngeren stellen sich den Älteren gleich und treten gegen sie auf, in Wort und Tat (Platon, 427-347 v. Chr.)
·           Was nun zunächst die jungen Leute angeht, so sind sie heftig in ihrem Begehren und geneigt, das ins Werk zu setzen, wonach ihr Begehren steht. Von den leiblichen Begierden sind es vorzugsweise die des Liebesgenusses, denen sie nachgehen, und in diesem Punkt sind sie alle ohne Selbstbeherrschung. […] zornmütig und leidenschaftlich aufwallend in ihrem Zorne. Auch sind sie nicht imstande, ihren Zorn zu bemeistern, denn aus Ehrgeiz ertragen sie es nicht, sich geringschätzig behandelt zu sehen, sondern sie empören sich, sobald sie sich beleidigt glauben. Auch hoffnungsreich sind sie, denn das Feuer, das dem Zecher der Wein gibt, haben die Jünglinge von der Natur […] sie tun alles eben zu sehr, sie lieben zu sehr und hassen zu sehr, und ebenso in allen anderen Empfindungen. Wenn ich die junge Generation anschaue, verzweifle ich an der Zukunft der Zivilisation (Aristoteles, 384-322 v. Chr.)
·           Ich habe überhaupt keine Hoffnung mehr in die Zukunft unseres Landes, wenn einmal unsere Jugend die Männer von morgen stellt. Unsere Jugend ist unerträglich, unverantwortlich und entsetzlich anzusehen (Aristoteles, 384-322 v. Chr.)
·           […] bartlosen Jüngling, für Mahnworte harthörig, großspurig im Geldausgeben, hoch hinausstrebend, rasch im Begehren (Horaz, um 30 v. Chr.)
·           […] auf ihrem Höhepunkt kennt die Jugend nur die Verschwendung, ist leidenschaftlich dem Tanze ergeben und bedarf somit wirklich eines Zügels. Wer nicht dieses Alter nachdrücklich unter seiner Aufsicht hält, gibt unmerklich der Torheit die beste Gelegenheit zu bösen Streichen […] Unmäßigkeit im Essen, sich vergreifen am Geld des Vaters, Würfelspiel, Schmausereien, Saufgelage, Liebeshändel mit jungen Mädchen, Schändung verheirateter Frauen“ Als Gegenmaßnahme wird empfohlen „Hoffnung auf Ehre und Furcht vor Strafe […]. Diejenigen aber, die gegen alle tadelnden Vorstellungen taub sind, muß man durch das Joch der Ehe zu fesseln versuchen (Plutarch, ca. 45-125 n.Chr.)
·           […] daß man die Flammen der jugendlichen Leidenschaft nur mit Hilfe der klösterlichen Aufsicht und einer strengen Disziplin besiegen könne (Gregor von Tours, um 580 n. Chr.)
·           […] wenn der Knabe ins Jünglingsalter tritt, so hat er auch dann, weil sich dieses Alter ebenso leicht dem Bösen zuneigt, den Zügel der Zucht nötig (Vincent von Beauvais, 1250)
·           Die Welt macht schlimme Zeiten durch. Die jungen Leute von heute denken an nichts anderes als an sich selbst. Sie haben keine Ehrfurcht vor ihren Eltern oder dem Alter. Sie sind ungeduldig und unbeherrscht. Sie reden so, als wüßten sie alles, und was wir für weise halten, empfinden sie als Torheit. Und was die Mädchen betrifft, sie sind unbescheiden und unweiblich in ihrer Ausdrucksweise, ihrem Benehmen und ihrer Kleidung (Mönch Peter, 1274)
·           Der grenzenlose Mutwille der Jugend ist ein Zeichen, daß der Weltuntergang nah bevorsteht (nach Melanchton, um 1530)
·           Das Sittenverderben unserer heutigen Jugend ist so groß, dass ich es unmöglich länger bei derselben aushalten kann. Ja, oft geschieht es, dass die nicht in Schranken gehaltene oder nicht gebührend ausgetriebene Zuchtlosigkeit eines einzigen Jünglings von ungesunder Triebkraft und verdorbenen Auswüchsen auch die übrigen noch frischen und gesunden Pflanzen ansteckt (ein Schulmeister 18. Jh.)
·           Immer wieder wird die Wirksamkeit der Volksschule bei dem zunehmenden Sittenverfall diskutiert oder die immer lauter werdenden Klagen über die zunehmende Rohheit und Verwilderung unserer Jugend, besonders der erwachsenen Dorfjugend, erörtert (Allgemeine Schulzeitung, Darmstadt 1826)
·           Es ist die Wahrnehmung gemacht worden, daß bei der Schuljugend die früher kundgegebene Anständigkeit und das sittliche Benehmen […] mehr und mehr verschwinde (Regierungsbericht, 1852)
·           […] knapp 50 % aller Lehrlinge zeigen mangelhafte oder stark defizitäre Leistungen in der Mathematik (DIHK, 1965)
·           Zusätzlich bemängeln unsere Gesellschaft und die Wirtschaft eine allgemeine Abnahme von Wert- und Moralvorstellungen, sowie fehlende soziale und personale Kompetenzen (vgl. DIHK, 2010)
·           Fehlende Disziplin, mangelnde Leistungsbereitschaft, geringe Belastbarkeit – die Azubis machen unseren Unternehmen Sorgen (DIHK-Chef Hans Heinrich Driftmann 2011)
·           ...Auszubildende faul, ohne Disziplin, kein Interesse. Jedes zweite Unternehmen klagt über mangelnde Disziplin und Belastbarkeit sowie fehlende Leistungsbereitschaft und Motivation. Jedes dritte bemängelt die Umgangsformen der Bewerber. (Die Welt, 21.8.2014 Zitat zur neuen DIHK Umfrage „Ausbildungsfähigkeit“)



[1]   "Ilias", "Odyssee" - eh schon wissen.