Über Feigheit, Mut und List
In der
weithin unbekannten Wochenschrift "der
FREITAG" ist ein Sammelartikel über miese Tricks in Geschichte und
Literatur erschienen. Ein Absatz widmet sich der wohlbekannten Geschichte
vom Hasen und vom Igel.
"Das Märchen "Der Hase und der Igel" ist wohl eine der am
häufigsten missinterpretierten Erzählungen. Die geläufige Auslegung ist, dass
hier Schläue über körperliche Vorzüge triumphiert - der kluge Igel siegt durch
den täuschenden Einsatz seiner Igel-Frau über den schnellen Hasen. Betrachtet
man die Geschichte aber andersherum, zeigt sich, dass der Igel ein übler
Trickser ist, der sich über jeden Fair-Play-Gedanken hinwegsetzt. (...) Dass in der Original-Fassung der Igel als "kleiner
Mann" charakterisiert wird, der es dem hohen Herren (Hase) mal richtig
zeigt, macht es auch nicht besser. Denn im Original bricht der Hase beim 74.
Rennen schließlich tot zusammen. Ganz schön mies."
Mies, aha. Jemand schließt eine Wette ab, er veranstaltet
einen kleinen Wettkampf. Wider jegliche
Wahrscheinlichkeit verliert er diesen Wettkampf, der Schnelläufer Hase wird vom
gemächlich schlurfenden Igel im Wettlauf besiegt. Dieses Rennen wird noch 73
mal wiederholt und jedes Mal gewinnt der Igel, der nach aller Lebenserfahrung
gar nicht gewinnen kann. Jedes
leidlich intelligente Lebewesen wird spätestens nach dem dritten Lauf kapieren,
daß da etwas nicht stimmt, etwas nicht stimmen kann. Da steckt irgendein Trick dahinter, da muß ein Trick dahinter stecken.
Ein Lebewesen, das so einfältig ist wie der Hase in der
Fabel wird aus der Evolution geworfen, da beißt der Darwin keinen Faden ab.
Und was den Igel als "übler Trickser", der "sich
über jeden Fair-Play-Gedanken hinwegsetzt" betrifft...
Lassen wir den Igel mal außen vor, nehmen wir uns
stattdessen - auf daß auch ihm Gerechtigkeit widerfahre - den Hasen zum
Exempel. Der Hase hat in unserer Denkwelt keinen guten Ruf, er gilt uns als
Sinnbild der Feigheit. Das Hasenpanier
ergreifen heißt soviel wie feige davonlaufen statt sich tapfer dem Fuchs
zum Kampf zu stellen, Hasenfuß ist
der Schimpfname für einen Feigling.
Man braucht nicht die
analytische Schärfe eines Adorno, eines Habermas oder gar eines Sloterdijk...
es ist vielmehr unmittelbar einleuchtend, daß die Beschimpfung des fliehenden
Hasen als feige die Ideologie des Fuchses ist. Der
Fuchs sähe es natürlich gerne, würde sich der Hase ritterlich und fair zum
Kampfe stellen. Hasen, die sich so verhalten, wären bald ausgerottet. (Die Füchse übrigens auch, ohne Hasen wird es für sie eng.) Für den
Hasen ist die Flucht die Waffe der Wahl, damit kann er den Fuchs bezwingen, der
verhungert, wenn er nur noch schnelle Hasen findet.
Mit der Fairneß und der Ritterlichkeit ist es überhaupt so eine
Sache. Faires, ritterliches Verhalten ist eine sinnvolle Sache unter Gleichen.
Trifft ein Ritter auf einen anderen Ritter, so hat er als Gegner jemanden vor
sich, der ganz ähnlich ausgerüstet ist, der ganz ähnlich ausgebildet wurde wie
er selber. Trifft dagegen ein kleiner Mensch mit Dolch auf einen Riesen mit einem
Schwert, so wäre ein fairer Kampf nur ein Synonym für Wahnsinn. Der Kleine kann diesen Kampf gar nicht gewinnen.
Läuft er davon oder läßt er sich einen "gemeinen Trick" einfallen, so
ist er nicht feige, sondern weise.
In der Schlacht von Sempach vom 9. Juli 1386 standen die
Schweizer Eidgenossen - Bürger und Bauern - dem habsburgischen Ritterheer
gegenüber. Die Schweizer holten mit den Widerhaken ihrer langen Hellebarden die
Ritter vom Pferd. Dort lagen sie nun, unfähig, sich in ihrer schweren Rüstung
ohne fremde Hilfe zu erheben. Sie wurden entweder kurzerhand erschlagen oder
sie kollabierten tödlich in der brüllenden Juli-Hitze dieses Tages.
In der Schlacht von Azincourt vom 25. Oktober 1415 schossen
die auf große Treffsicherheit geschulten englischen Langbogenschützen den
französischen Rittern ihre Pferde unterm Arsch zusammen (wo sie dann leichte
Beute der Fußtruppen wurden) oder töteten sie direkt aus großer Entfernung.
In beiden Schlachten wurde jeweils ein großer Teil des
habsburgischen bzw. französischen Adels vernichtet.
Der Guerillakrieg, die Strategie des Kleinen gegen den
Großen, wurde - entgegen anderslautenden Gerüchten - nicht von Mao Tse Tung
erfunden. Sondern? Sondern von den amerikanischen Siedlern im
Unabhängigkeitskrieg gegen die Briten. Die Amerikaner verweigerten sich
weitgehend der offenen Feldschlacht, sie lockten den nicht landeskundigen Feind
in die undurchdringlichen Wälder und Weiten des Kontinents und griffen sie dann
aus dem Hinterhalt an.
Hör ich jetzt "Hermannsschlacht",
"Varus", "Teutoburger Wald"? Richtig, auch das war eine...
hüstel, feige Kriegführung gegen einen vielfach überlegenen Gegner. Gehen wir
noch weiter zurück, so fällt uns die Seeschlacht bei Salamis ein, bei der die
kleinen, wendigen Boote der Griechen die riesige Flotte der Perser in der engen
Bucht vernichteten. Darf's noch ein Stückerl früher sein? Der kleine David
donnert dem riesigen Goliath aus der Entfernung einen tödlichen Kieselstein
gegen die Stirn. Wenn du klein bist, mußt du dir was einfallen lassen.
In Sagen und Legenden tauchen sie gerne auf, die Superhelden,
die so stark sind wie fünf (wahlweise auch zehn) Männer, heißen sie nun
Achilles oder Siegfried. Sie gelten als unbesiegbar wegen ihrer Stärke. Aber...
Wer stark ist wie fünf (oder zehn) Männer sollte doch eigentlich von sechs oder
elf Männern besiegt werden können.
Oder?