15.8.12

Hasenpanier

Über Feigheit, Mut und List

In der weithin unbekannten Wochenschrift "der FREITAG" ist ein Sammelartikel über miese Tricks in Geschichte und Literatur erschienen. Ein Absatz widmet sich der wohlbekannten Geschichte vom Hasen und vom Igel.
"Das Märchen "Der Hase und der Igel" ist wohl eine der am häufigsten missinterpretierten Erzählungen. Die geläufige Auslegung ist, dass hier Schläue über körperliche Vorzüge triumphiert - der kluge Igel siegt durch den täuschenden Einsatz seiner Igel-Frau über den schnellen Hasen. Betrachtet man die Geschichte aber andersherum, zeigt sich, dass der Igel ein übler Trickser ist, der sich über jeden Fair-Play-Gedanken hinwegsetzt. (...) Dass in der Original-Fassung der Igel als "kleiner Mann" charakterisiert wird, der es dem hohen Herren (Hase) mal richtig zeigt, macht es auch nicht besser. Denn im Original bricht der Hase beim 74. Rennen schließlich tot zusammen. Ganz schön mies."

Mies, aha. Jemand schließt eine Wette ab, er veranstaltet einen kleinen Wettkampf. Wider jegliche Wahrscheinlichkeit verliert er diesen Wettkampf, der Schnelläufer Hase wird vom gemächlich schlurfenden Igel im Wettlauf besiegt. Dieses Rennen wird noch 73 mal wiederholt und jedes Mal gewinnt der Igel, der nach aller Lebenserfahrung gar nicht gewinnen kann. Jedes leidlich intelligente Lebewesen wird spätestens nach dem dritten Lauf kapieren, daß da etwas nicht stimmt, etwas nicht stimmen kann. Da steckt irgendein Trick dahinter, da muß ein Trick dahinter stecken.
Ein Lebewesen, das so einfältig ist wie der Hase in der Fabel wird aus der Evolution geworfen, da beißt der Darwin keinen Faden ab.
Und was den Igel als "übler Trickser", der "sich über jeden Fair-Play-Gedanken hinwegsetzt" betrifft...

Lassen wir den Igel mal außen vor, nehmen wir uns stattdessen - auf daß auch ihm Gerechtigkeit widerfahre - den Hasen zum Exempel. Der Hase hat in unserer Denkwelt keinen guten Ruf, er gilt uns als Sinnbild der Feigheit. Das Hasenpanier ergreifen heißt soviel wie feige davonlaufen statt sich tapfer dem Fuchs zum Kampf zu stellen, Hasenfuß ist der Schimpfname für einen Feigling.
Man braucht nicht die analytische Schärfe eines Adorno, eines Habermas oder gar eines Sloterdijk... es ist vielmehr unmittelbar einleuchtend, daß die Beschimpfung des fliehenden Hasen als feige die Ideologie des Fuchses ist. Der Fuchs sähe es natürlich gerne, würde sich der Hase ritterlich und fair zum Kampfe stellen. Hasen, die sich so verhalten, wären bald ausgerottet. (Die Füchse übrigens auch, ohne Hasen wird es für sie eng.) Für den Hasen ist die Flucht die Waffe der Wahl, damit kann er den Fuchs bezwingen, der verhungert, wenn er nur noch schnelle Hasen findet.

Mit der Fairneß und der Ritterlichkeit ist es überhaupt so eine Sache. Faires, ritterliches Verhalten ist eine sinnvolle Sache unter Gleichen. Trifft ein Ritter auf einen anderen Ritter, so hat er als Gegner jemanden vor sich, der ganz ähnlich ausgerüstet ist, der ganz ähnlich ausgebildet wurde wie er selber. Trifft dagegen ein kleiner Mensch mit Dolch auf einen Riesen mit einem Schwert, so wäre ein fairer Kampf nur ein Synonym für Wahnsinn. Der Kleine kann diesen Kampf gar nicht gewinnen. Läuft er davon oder läßt er sich einen "gemeinen Trick" einfallen, so ist er nicht feige, sondern weise.

In der Schlacht von Sempach vom 9. Juli 1386 standen die Schweizer Eidgenossen - Bürger und Bauern - dem habsburgischen Ritterheer gegenüber. Die Schweizer holten mit den Widerhaken ihrer langen Hellebarden die Ritter vom Pferd. Dort lagen sie nun, unfähig, sich in ihrer schweren Rüstung ohne fremde Hilfe zu erheben. Sie wurden entweder kurzerhand erschlagen oder sie kollabierten tödlich in der brüllenden Juli-Hitze dieses Tages.
In der Schlacht von Azincourt vom 25. Oktober 1415 schossen die auf große Treffsicherheit geschulten englischen Langbogenschützen den französischen Rittern ihre Pferde unterm Arsch zusammen (wo sie dann leichte Beute der Fußtruppen wurden) oder töteten sie direkt aus großer Entfernung.
In beiden Schlachten wurde jeweils ein großer Teil des habsburgischen bzw. französischen Adels vernichtet.
Der Guerillakrieg, die Strategie des Kleinen gegen den Großen, wurde - entgegen anderslautenden Gerüchten - nicht von Mao Tse Tung erfunden. Sondern? Sondern von den amerikanischen Siedlern im Unabhängigkeitskrieg gegen die Briten. Die Amerikaner verweigerten sich weitgehend der offenen Feldschlacht, sie lockten den nicht landeskundigen Feind in die undurchdringlichen Wälder und Weiten des Kontinents und griffen sie dann aus dem Hinterhalt an.
Hör ich jetzt "Hermannsschlacht", "Varus", "Teutoburger Wald"? Richtig, auch das war eine... hüstel, feige Kriegführung gegen einen vielfach überlegenen Gegner. Gehen wir noch weiter zurück, so fällt uns die Seeschlacht bei Salamis ein, bei der die kleinen, wendigen Boote der Griechen die riesige Flotte der Perser in der engen Bucht vernichteten. Darf's noch ein Stückerl früher sein? Der kleine David donnert dem riesigen Goliath aus der Entfernung einen tödlichen Kieselstein gegen die Stirn. Wenn du klein bist, mußt du dir was einfallen lassen.

In Sagen und Legenden tauchen sie gerne auf, die Superhelden, die so stark sind wie fünf (wahlweise auch zehn) Männer, heißen sie nun Achilles oder Siegfried. Sie gelten als unbesiegbar wegen ihrer Stärke. Aber... Wer stark ist wie fünf (oder zehn) Männer sollte doch eigentlich von sechs oder elf Männern besiegt werden können.
Oder?

Mein Königreich für ein Trojanisches Pferd

Ilias, Macbeth und Richard III.

In der weithin unbekannten Wochenschrift "der FREITAG" ist ein Sammelartikel über miese Tricks in Geschichte und Literatur erschienen. Ein Absatz widmet sich der Geschichte vom Trojanischen Pferd.
"Das Trojanische Pferd ist eine der frühesten Listen der Literaturgeschichte. Nach zehn Jahren glückloser Belagerung meinte der Grieche Odysseus: "Ich hab’s!" Er ließ die Seinen ein großes Holzpferd zimmern, stellte es vor der Stadtmauer ab und fingierte den Abzug. Unvorsichtig parkten die Trojaner das Pferd in ihrer Stadt und wurden von darin versteckten Griechen überrascht."
Das ist natürlich ein riesengroßer Schmarrn. Wer auch nur für ein Fünferl ein Hirnschmalz hat und bereit ist, dieses Hirnschmalz gelegentlich zum Denken zu verwenden, dem fällt auf, daß die Geschichte vom Trojanischen Pferd, die uns der Kollege Homer überliefert hat, zwar sehr beeindruckend und schön dramatisch ist, dennoch ein story hole enthält, groß wie ein Scheunentor (oder eben ein hölzernes Riesenpferd). Daß die Griechen nach zehnjähriger Belagerung über Nacht plötzlich abziehen und auch noch ein Geschenk für die Feinde hinterlassen - das ist so ein hanebüchener Unfug, daß es dir die Zehennägel aufkranzelt. Den Trojanern dermaßen ausgeprägte Einfalt zu unterstellen, bloß damit die leidige Story von diesem endlosen Krieg schließlich doch noch zu einem Ende kommt...
Aber gut, immerhin muß man Homer zugute halten, daß er das story hole so geschickt zugeschmiert hat, daß es den wenigsten auffällt. Dergleichen Hausierertricks zeichnen einen wirklich ganz großen Künstler aus.

Was, ich hör ein Widerwort? "Hausierertricks" und "Große Kunst" wären ganz was anderes?
Gut, dann nehmen wir halt Shakespeares "Macbeth" zum Exempel. Das ganze Drama lebt von den Prophezeiungen der Hexen. Aus diesen Wahrsagesprüchen gewinnt Macbeth den Impuls für den Königsmord, aus ihnen schöpft er die Kraft, um seine Furcht nach der Tat niederzukämpfen und weiterzumachen.
Die Hexen prophezeien ihm, er werde Than of Cawdor, Than of Glamis, er werde auch der künftige König von Schottland sein. Banquo, der bei ihm ist, werde dagegen der Stammvater von Königen sein.
Die ersten beiden Prophezeiungen erfüllen sich sofort und jetzt will Macbeth auch König werden. Dann, als er den alten König Duncan im Schlaf erstochen hat, kommt ihm auf einmal, daß er - nach den Worten der Prophezeiung - mit seiner Tat eigentlich nur den Weg für das Königtum der Söhne von Banquo geebnet hat. Das fällt dem Dummbeutel Macbeth erst jetzt auf!!!
Der erste Schnitzer, unglaubwürdig, soviel Schwachsinn.
Der zweite Schnitzer: Macbeth läßt also Banquo töten, der gleichzeitige Mordanschlag auf dessen Sohn mißlingt aber. Aha, denkt der Leser, Fleance, der Sohn, muß ja am Ende des Stückes König werden. Am Ende des Stückes aber ist nicht Fleance König von Schottland - wie auch? - sondern Malcolm, der älteste Sohn des von Macbeth ermordeten Königs Duncan.
Ein Fuchs, dieser Shakespeare, ein mit allen Salben geriebener Dramatiker. Der Unfug ist mir nämlich erst beim dritten Lesen des Stückes aufgefallen.
Und der "Richard III." vom nämlichen Shakespeare ist eine Folge brillanter und äußerst bühnenwirksamer Szenen, mitnichten aber ein Theaterstück.

P. S.: Um zum Schluß nochmal auf das Pferd zurückzukommen... die Geschichte mit dem Trojanischen Pferd Schwein war sowieso ganz anders.

Brief & Anstand

A. B.: "Ich habe heute mit ein wenig Erstaunen festgestellt, daß derzeit keine Ausgabe der Briefe Goethes an Frau von Stein im Druck zu sein scheint."

W. H.: "Obst du dich nicht schämst, fremder Leute Briefe zu lesen?