Samstag, 21. August 2021

Shoah und Holocaust - Schöngeflötete Wörter

1979 kam die vierteilige US-amerikanische Fernsehserie "Holocaust" in's westdeutsche Fernsehen. Mit der Serie kam auch das Wort "Holocaust" in den allgemeinen Gebrauch deutscher Muttersprachler. Zuvor war das Wort nur relativ wenigen Wissenschaftlern geläufig gewesen, es kommt aus dem Altgriechischen ὁλόκαυστος - holókaustos - und bedeutet ursprünglich "vollständig verbrannt", auch (religiöses) "Brandopfer" (von Tieren). 1985 kam der zweiteilige Dokumentarfilm "Shoah" in den deutschen Sprachraum, "Shoah" war ein Begriff den vordem fast ausschließlich Juden und Judaisten kannten. Das hebräische Substantiv שׁוֹאָה Shoa bezeichnet in der Bibel (Jes. 10,3 EU) eine von Gott gesandte ausländische Bedrohung des Volkes Israel, übersetzt als "Unheil" oder "Heimsuchung". Davon ausgehend bezeichnet es allgemein für ganze Völker existenzbedrohende Geschichts- oder Naturereignisse, übersetzt etwa als "große Katastrophe", "Untergang" oder "Zerstörung".

Beide Wörter wurden damals nahezu verzögerungsfrei in den deutschen Wortschatz aufgenommen, ganz so als hätte man auf ihr Erscheinen gewartet. Im SPIEGEL-Archiv taucht "Shoah" erstmalig 1986 auf, nachdem der Film von Lanzmann also in Deutschland gezeigt worden war. Zuvor scheint das Wort also auch in den führenden Medien nicht im Gebrauch gewesen zu sein. Ähnliches gilt für "Holocaust", hier ist der früheste Treffer im SPIEGEL-Archiv von 1977 - eine Meldung, daß in Berlin einige Szenen für die amerikanische Fernsehserie "Holocaust" gedreht würde. Daß ich nicht lüge: Es gibt einen Ausreißer aus dem Jahre 1962. "Seine (Kennedys; T. R.) besondere Vorliebe gilt kontrapunktischen Wendungen, von denen er (oder sein Ghostwriter Theodore Sorenson) eine ganze Reihe erfunden hat, um seine Grundthese auszudrücken: eine "Wahl zwischen Demütigung und Zerstörung" (humiliation and holocaust), eine "Wahl zwischen Kapitulation und totalem Atomkrieg" (surrender and all-out nuclear war), eine "Wahl zwischen schmählichem Rückzug und unbegrenzter Vergeltung" (inglorious retreat and unlimited retaliation)."

Sprachverschleierung

Ich habe die Wörter Shoa und Holocaust viele Jahre lang benutzt, ohne mir was dabei zu denken. Ich benutze sie weiter, auch hier einer Gewöhnung folgend, aber ich kann sie nicht mehr so unbefangen verwenden wie zuvor. Vor etlichen Jahren nämlich ist mir aufgegangen, wieviel Verschleierungspotential für einen deutschen Muttersprachler in diesen beiden Wörtern steckt. Diese Bemerkung wird manchem rätselhaft vorkommen, ich sollte sie erklären.

In einem zu Recht weithin unbekannten österreichischen Internet-Forum beklagte sich einst eine Userin, es würden gerade diejenigen, "die sich die Toleranz so demonstrativ auf´s Hirn nageln" (...) "alles, was nicht in ihr Weltbild passt, reflexartig als böse, rechtsextrem, xenophob, menschenverachtend und was weiß ich noch alles diffamieren."

Allen Kommunikationspsychologen hier fällt natürlich sofort das Wort "xenophob" auf. Das Wort ist griechischen Ursprungs und heißt auf Deutsch so viel wie "fremdenfeindlich". Die Frage ist: Warum verwendet die Userin, die sonst gar nicht zu übermäßigem Fremdwortgebrauch neigt, so ein Wort?

Von der Keuschheit der lateinischen Sprache

Mein (Kommunikations-)Psychologie-Professor von anno seinerzeit - im übrigen ein Schla-Wiener, das nur nebenbei - hat dergleichen unnötigen ([1]) Fremdwortgebrauch als "Flucht ins keusche Latein" bezeichnet: Jemand verwendet Fachtermini gerne dann, wenn er über kitzlige, ihm peinliche Dinge spricht, oder wenn er - wie in der Fußnote angerissen - selber nicht so genau weiß, wovon er eigentlich spricht.

Ein Wort aus einer fremden Sprache hat im Deutschen nämlich nicht diese unmittelbaren und manchmal drastischen Beiklänge (Konnotationen) wie ein deutsches Wort. Das Wort "Koitus" ist klinisch sauber, "Ficken" oder selbst das neutralere "Geschlechtsverkehr" dagegen sind sehr viel konkreter, laß sagen schmuddeliger. "Faeces" hört sich netter an als "Scheiße".

In Wörtern aus dem Lateinischen, Griechischen oder einer anderen Fremdsprache steckt sehr viel mehr Verschleierungspotential als im entsprechenden deutschen Wort. Ein Fremdwort nämlich bringt bei einem deutschen Muttersprachler nichts bzw. nur sehr wenig zum Klingen. In vielen Fällen macht genau das Fremdwörter so attraktiv, weil klinisch steril.

Einmal in der deutschen Sprache angekommen, haben "Shoah" und "Holocaust" rasend schnell das zuvor verwendete Wort "Judenvernichtung" auf die Plätze verwiesen. Weil? Weil "Shoah" und "Holocaust" einem deutschen Muttersprachler so schön angenehm - weil fremdsprachig und also abstrakt - aus dem Mund flutschen, während "Judenvernichtung" in seiner Brutalität (weil Bildkraft) richtiggehend ins Hirn schneidet.

Schriebe ich in einem Zeitungsartikel "...und sie feierten ausgelassen das Shoahfest", ich wäre neugierig, wie viele Leser überhaupt darüber stolpern und, falls ja, wie lange sie brauchen, um zu merken, warum da was nicht stimmt.

"Bei der Defäkation hebt der Priester beide Hände zum Himmel und ruft..." - wieder so ein Satz, bei dem viele Leute gar nichts oder erst nach ein, zwei Stutzsekunden etwas merken. Defäkation ([2]) klingt so vornehm, es könnte auch Teil eines religiösen Rituals sein.

Ein Witz, zwo, drei:

Eine Dame aus Husum ist zum ersten Mal in ihrem Leben in Hamburg. In der Nähe der Landungsbrücken sieht sie einige ziemlich aufgedonnerte Frauen herumstehen. Sie frägt einen Polizisten.

"Sagen Sie mal, Herr Schutzmann, was sind denn das für Frauen da drüben?"

"Die? Ach das sind Prostituierte."

"Prostituierte?" wiederholt die Frau nachdenklich. "Na, ob da man nich 'n paar Nutten bei sind."

"Prostituierte" hört sich in der Tat an wie ein akademischer Titel.

Was ich oben schrieb gilt, wohlgemerkt, für die deutsche Sprache und einen deutschen Muttersprachler. Wer dagegen hebräisch spricht, für den hat Shoah eine völlig andere Konnotation (Nebenbedeutung). Der Hebräischsprecher denkt automatisch die ihm vertraute ursprüngliche Bedeutung des Wortes (Unheil, große Katastrophe) mit, wenn er das Wort benutzt. Im Deutschen ist es vorerst ein noch wenig vertrautes Kunstwort, ähnlich wie Wrdlbrmft.

Ovid

Das Schlußwort gehört Ovid. Ovid, der alte Charmeur und Schönschwätzer (Küß die Hand, schöne Frau, Ihre Augen sind so blau, tirili, tirilo, tirila) meinte einst in seiner "Ars amatoria" (Von der Kunst des Fickens):

Es ist eine feine Sache, die Übel zu mildern, indem wir sie anders benennen: Als braun werde die bezeichnet, deren Blut (eigentlich: Haut) schwärzer ist als illyrisches Pech; Schielt sie, so heiße sie "der Venus gleich"; sind ihre Augen graugelb, so gleiche sie Minerva; stirbt sie fast vor Magerkeit, sei sie "schlank"; nenne eine jede, die klein ist, "handlich", die Dicke "vollschlank". So sei jeder Fehler unter dem benachbarten Vorzug verborgen. ([3])

 


[1]   Nicht wenige Fremdwörter, vor allem Fachbegriffe sind schlicht knackiger und präziser als entsprechende deutsche Wörter. Nicht selten ist es aber doch nur Blähsprech, Imponiergehabe. Meine Erfahrung ist: Je weniger jemand selbst etwas von einer Sache versteht, desto komplizierter drückt er sich aus, wenn er dir etwas erklärt.

[2]   Defäkation, lateinisch für Abkacken.

[3]   Nominibus mollire licet mala: "fusca" vocetur, Nigrior Illyrica cui pice sanguis erit: Si paeta est,"Veneri similis": si rava, "Minervae": Sit "gracilis", macie quae male viva sua est; Dic "habilem", quaecumque brevis, quae turgida, "plenam"; et lateat vitium proximitate boni.

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