Als ich noch jung und mein Ältester noch klein und der
Einzige war, wohnte bei uns im Haus eine Familie, die eine Tochter hatte, die
Judith. Deren Vater war Historiker, Mittelalter, mitten in der Promotion,
allerdings vom Niederrhein stammend. Die Mutter studierte Kunstgeschichte [1]
und kam aus Bad Reichenhall, nach der Traditionellen Chinesischen Medizin eine
unheilbringende Kombination.
Eines Tages erzählte sie, es zögen aus aller Herren Länder -
Schleswig-Holstein, Niedersachsen, Hamburg, Köln, Krähwinkel - Menschen, kaum
daß sie Rentner geworden seien, nach Reichenhall. Wegen der Alpen und dem
Bergwandern, dem Schifoan und weil dort das Salz (Reichenhall!)
so billig wäre.
Aus Mecklenburg-Vorpommern, Brandenburg oder Sachsen kamen
damals keine Rentner, weil es erstens Mecklenburg-Vorpommern, Brandenburg oder
gar Sachsen noch gar nicht gab und weil gewisse administrative Maßnahmen den
Reiseverkehr doch sehr behinderten.
Auffallend sei jedenfalls, daß nicht wenige dieser Rentner
binnen weniger Jahre nach ihrem Umzug stürben. Der Grund hierfür sei weder das eh
schon fortgeschrittenere Alter noch die Reichenhaller Mafia, sondern vielmehr
der Föhn [2].
Die Neubürger seien ihn schlicht nicht gewöhnt, in fortgeschrittenem Alter
gewöhne man sich auch nicht mehr so leicht an ihn und so würden sie vom heißen,
trockenen Fallwind aus dem Gebirge dahingerafft.
[1] Von Bismarck - dem Erfinder des Herings -
stammt der Spruch: "Die erste Generation erwirbt das Vermögen, die zweite
verwaltet und vermehrt es, die dritte Generation studiert Kunstgeschichte und
die vierte verkommt völlig.
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