Wer in Deutschland den Führerschein gemacht und hier seine
Fahrpraxis erworben hat, der ist daran gewöhnt, Verkehrsregeln sehr wörtlich zu
nehmen. Kommt er nachts um drei Uhr an die rote Ampel einer sehr
übersichtlichen Kreuzung, an welcher er weit und breit der einzige
Verkehrsteilnehmer ist, so wird er anhalten und warten, bis die Ampel grün
zeigt.
Er tut gut daran, denn sollte ein im
Unterholz versteckter Polizist beobachten, wie er bei rot über die Ampel fährt,
dann wird er eine Anzeige bekommen.
Vorschriften sind in Deutschland auch dann
zu beachten, wenn sie in der jeweiligen Situation sinnlos oder gar widersinnig
sind.
Fährt ein Deutscher nach Italien, so fängt
er spätestens in der Toskana an, sich zu wundern. Die Verwunderung wird in Rom zur
Ängstlichkeit, und im Großraum Neapel bricht blanke Panik aus.
Vorfahrt
Meine erste nachhaltige persönliche
Erfahrung mit dem italienischen Autoverkehr machte ich Anfang der neunziger Jahre
in Livorno, also noch relativ weit im Norden.
Stoßzeit, Kreisverkehr, ich steh da und komm
nicht rein in den Kreis, die Schlange der Autos reißt und reißt nicht ab.
Hinter mir hupen die anderen Autos - viele Autos! - bereits ungeduldig. Was
soll ich tun? Ich kann doch nicht einfach in den Kreisverkehr einfahren und
damit den anderen einfach die Vorfahrt nehmen!
Ein dabeistehender Polizist, der den Verkehr
weniger regelt als vielmehr beobachtet, winkt mir zu, erst glaub ich's nicht,
dann wird es unmißverständlich: Der Polizist winkt mir - und zwar energisch -
zu, ich solle mich doch gefälligst in den an mir vorbeifließenden Verkehr
hineindrücken. Ein Trick, um mir dann wegen Übertretung der
Straßenverkehrsordnung ein Bußgeld abzunehmen?
Der Polizist wird immer ungeduldiger, ich
fahre also raus, langsam, vorsichtig, aber doch entschieden - und man läßt mich
rein, die Autos werden langsamer, lassen eine Lücke und ich bin drin. Niemand
hupt wütend, weil ich ihm die Vorfahrt genommen hätte.
Und dann, einige Jahre später, nach Training
in Sardinien, den Abruzzen und Apulien, der absolute Ernstfall: Kampanien.
Eine Nebenstraße, Autobahnzubringer und
entsprechend gut befahren, kreuzt eine vorfahrtsberechtigte und ebenfalls gut
befahrene Staatsstraße (entspricht der deutschen Bundesstraße). Also steh ich
und warte. Und warte. Und hinter mir hupen die Leute und ich trau mich nicht
und gerate durch das Gehupe immer mehr unter Druck und trau mich schließlich
doch.
Langsam, vorsichtig, aber kontinuierlich.
Und: Draußen bin ich, denn die von der Querstraße herkommenden Autofahrer
werden langsamer und verschaffen mir die Lücke, die ich zum Rausfahren brauche.
So geht es, ohne Ampel und trotz erheblichen Verkehrs, der aus allen vier
Richtungen auf die Kreuzung zufährt.
Die Rechts-vor-Links-Regelung schafft
Ordnung, sie funktioniert wunderbar bei mäßigem, normalem und etwas dichterem
Verkehr. Wehe aber, der Verkehr wird wirklich dicht, aus allen und nach allen
Richtungen. Eine Rechts-vor-Links-Kreuzung wird dann ohne regelnde Polizei fast
nicht mehr befahrbar. Der Stau ist vorprogrammiert. In Deutschland.
In Italien habe ich beobachtet, daß an einer
abknickenden Vorfahrtsstraße, an der fast immer sehr viel Verkehr ist, die
Autos sich jeweils ganz locker eingefädelt haben und jeder den anderen auch
widerstandslos hat einfädeln lassen. Und das ohne Hinweisschild "Einfädeln
lassen". Kurz zuvor hatte ich eine ganz ähnliche Situation in Deutschland
erlebt und ich mußte ewig lange warten, bis ich endlich die Chance hatte, auf
die Vorfahrtsstraße einzubiegen. Keiner hat mich freiwillig reingelassen. Und
wehe, ich hätte mich langsam reingedrückt!!!
In Regenstauf hat mich - der ich gerade aus
dem Italienurlaub zurückkam und noch etwas italienisch fuhr - ein Autofahrer, wütend
schimpfend und hupend, durch den ganzen Ort verfolgt, als ich mich, ganz sanft,
vor ihm reingedrückt hatte.
Chaos
In den späten Neunzigern waren wir mit der
Klasse meines Sohnes auf einer Busreise zu den antiken Ausgrabungsstätten bei Neapel.
Ein Großteil der Mitreisenden war noch nie soweit in den Süden des Stiefels
vorgedrungen, für sie war diese Reise eine erstaunliche Erfahrung. Begeistert
von der großartigen und fruchtbaren Landschaft dort waren alle, einer sagte, er
habe bisher immer gedacht, in Süditalien sei alles flach und sandig, ein
Ausläufer der Sahara.
Was das bunte und lebhafte Treiben in den
Straßen Neapels betrifft, so lag die Stimmungslage irgendwie zwischen überheblichem
Amüsement und unverhohlener Faszination. Der neapolitanische Straßenverkehr aber
hat sie - obwohl sie schon eine Menge Vor-Urteile mitbrachten - überwältigt und
entsetzt. Sie waren sichtlich froh, hinter den sicheren Scheiben des Busses zu
sitzen und fürs Fahren nicht selber verantwortlich zu sein. Dieses heillose
Chaos aber auch, jeder macht, was er mag, dieser helle Wahnsinn! Null Ordnung.
Einer der anderen Eltern, die mitgereist
waren, war von Beruf Techniker, technischer Prüfbeamter, um genau zu sein, und
als solcher gewohnt, komplexe Abläufe zu beobachten, zu beschreiben und
schließlich zu bewerten.
Irgendwann sprach er mich an, da er wußte, daß
wir schon dreimal in der Gegend (die kurz drauf für 10 Jahre zur Heimat wurde)
auf Urlaub waren. Zum anderen wußte er auch, daß ich Verkehrspsychologe bin.
Er beobachte den Straßenverkehr hier jetzt
seit einigen Tagen und habe große
Schwierigkeiten, das Gesehene zu verstehen. Was er da draußen sehe, sei das
pure Chaos, der nackte Wahnsinn, das totale Durcheinander. Keiner halte sich an
irgendwelche Verkehrsregeln, die ja hier in Italien nicht anders seien als in
Deutschland, jeder scheine das zu tun, was ihm momentan gerade am passendsten
erscheine. Was er aber auch beobachte, sei der absolut irritierende Umstand,
daß dieses Tohuwabohu offensichtlich funktioniere. Jeder komme am anderen
irgendwie vorbei, es krache nicht ständig, wie man dies als deutscher
Verkehrsteilnehmer bei diesen Zuständen vermuten würde, er höre die
Notfallsirene keinesfalls häufiger als in einer deutschen Großstadt, man hupe
hier zwar viel, aber es sei ein informierendes Hupen, nicht das aggressive
Hupen von Leuten, die von anderen um ihr Vorfahrtsrecht gebracht wurden.
Das ist der Punkt! Man kommt als
außenstehender oder teilnehmender Beobachter des (süd)-italienischen
Straßenverkehrs nicht um die Erkenntnis herum, daß dieses Chaos wider jede
(deutsche) Erfahrung zu funktionieren scheint,
was durch die italienische Unfallrate belegt wird. [1]
Wenn aber das neapolitanische Verkehrschaos funktioniert,
dann kann es kein Chaos sein. Chaos, das liegt in der Definition des Wortes
kann nämlich nicht "funktionieren", da jedes Funktionieren von
irgendetwas strenge Regeln und deren Beachtung voraussetzt, Chaos aber nahezu regellos
abläuft.
Es ist mit dem Straßenverkehr wie mit einer fremden Sprache.
Wer sie nicht beherrscht, für den ist sie nichts als sinnloses Gebrabbel. Wer
die Sprache des neapolitanischen Straßenverkehrs nicht versteht, sieht nichts als
regelloses Chaos.
Keiner kann sich darauf verlassen, daß der andere
Verkehrsteilnehmer sich leidlich berechenbar verhält, es ist also jederzeit
fast alles möglich. Das erzwingt erheblich niedrigere Geschwindigkeiten als in
einer deutschen Stadt, das erzwingt Blickkontakt, jeder Verkehrsteilnehmer ist
gezwungen, für den anderen mitzudenken.
Der neapolitanische Straßenverkehr erzwingt Disziplin.
Neapel und Disziplin?
Disziplin
Je rauher und stürmischer das Meer, desto höher und
haltbarer müssen die Deiche sein. Der Unterschied zwischen Mittelmeer und
Nordsee wird jedem sofort klar, wenn er die massiven Deichanlagen Frieslands
mit der Mittelmeerküste vergleicht, wo die Kirche oft nur wenige Meter
Sandstrand von der Wasserlinie entfernt steht.
Je wilder und anarchischer ein Volk, desto ver-regelter
müssen seine Gesetze sein, desto strenger muß man auf die Einhaltung dieser
Gesetze achten.
Nun gelten einerseits die Deutschen als das
disziplinierteste und gesetzestreueste Volk Europas, andererseits ist das
Zusammenleben in Deutschland so streng verrechtlicht wie nirgendwo sonst.
Ein Widerspruch?
Nein, denn Disziplin ist etwas völlig anderes als Gehorsam.
Disziplin ist die freiwillige Unterordnung
unter ein als sinnvoll erkanntes Prinzip oder Gesetz.
Spontan sich bildende Schlangen an einer Bushaltestelle, wie
sie in England selbstverständlich sind, konsequent rechts auf der Rolltreppe stehende
Menschen, damit die etwas eiligeren links ausreichend Platz haben, sind in
Deutschland allenfalls dann möglich, wenn ein entsprechendes Schild dies
verlangt.
Ein Italiener muß disziplinierter und selbstverantwortlicher
sein als ein Deutscher, denn die italienischen Institutionen sind deutlich
unzuverlässiger als in Deutschland. Oder sind in Italien die Institutionen
nachlässiger, weil sie es sich bei ihrer disziplinierten Bevölkerung leisten
können?
In gleicher Weise sind auch die Regeln im Straßenverkehr
theoretisch zwar vorhanden, werden in der Praxis aber eher als unverbindliche
Empfehlungen gehandhabt.
Deutschland dagegen ist ein anarchisches Volk, Disziplin ist
nur dort anzutreffen, wo ein Sheriff an der Ecke steht und kontrolliert.
Ich weiß von einem Autofahrer aus Kampanien, der in
Deutschland nach 50 oder 100 km von der Autobahn heruntergefahren ist,
weil er mit den Nerven völlig am Ende war. Die deutsche Autobahn hat ihn
kleingekriegt. Ich kann ihn verstehen, ich habe mich auf süditalienischen
Straßen auch sicherer gefühlt als auf deutschen.
[1] Die höhere Zahl von Verletzten und
Verkehrstoten liegt daran, daß man in Italien mit Sicherheitsgurt und Helm
nicht viel anzufangen weiß. Kleine Kinder stehen auf der Vespa vor dem Fahrer,
im Auto sind sie prinzipiell nicht angeschnallt, oft stehen sie vorne vor dem
Beifahrersitz, einmal habe ich sogar beobachtet, daß der steuernde Vater ein
Kleinkind zwischen sich und dem Lenkrad auf dem Schoß hatte.
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