Montag, 20. Februar 2012

Darennt

Wer in den fünfziger, sechziger Jahren mit einem Eingeborenen durch das südliche Niederbayern fuhr, wurde hart mit der Vergänglichkeit des Menschen konfrontiert. An jeder dritten scharfen Kurve - deren es viele gab, vor Erfin­dung der Geraden - deutete der Einheimische auf ein Gedenkkreuz am Straßenrand und sagte: "Do hot se vor finf Joan oana darennt!" (Da hat sich vor fünf Jahren einer derrannt.) Oder vor drei oder zehn Jahren oder neulich erst, wenn lediglich Blumen den Platz für das künftige Gedenkkreuz markierten. Und ab und zu, an einer besonders engen Kurve, hat dein Fremdenführer mit ratlo­ser Geste gemeint: "Des wundat me eingdle, daß se do no koana da­rennt hot." (Es wundert mich eigentlich, daß sich hier noch keiner derrannt hat.)


"Se darenna" oder auf deutsch: "am Steuer eines Kraftfahrzeuges durch übermäßige Geschwindigkeit ums Leben kommen" war für den motorisierten Landbewohner ein Schicksal, mit dem er immer zu rech­nen hatte, obwohl damals Autos noch erheblich seltener waren als heute.
Das lag zum Teil sicher daran, daß seinerzeit weder Sicherheitsgurt, noch ABS und Airbag erfunden waren, wohl aber bereits das Bier.
Einen weiteren Grund für die vielen tödlichen Verkehrsunfälle jener Zeit sehe ich darin, daß damals Autos wesentlich seltener waren als heute und der Niederbayer an sich zu einer weniger optischen als vielmehr statistischen Fahrweise neigt.
Der etwas dunkle Sinn dieser Bemerkung erschließt sich besser, wenn wir uns die seinerzeit ebenfalls recht häufigen Verkehrsunfälle an Bahnübergängen ansehen.
Bahnübergänge waren im Rottal - und sind es noch - weitgehend schienengleich und unbeschrankt. Bei kleineren Straßen war so gut wie nie ein Warnblinklicht vorhanden, das weiß-rote Kreuz mußte es tun.
Kein Wunder also, möchte man denken, daß an diesen Bahnübergängen in schöner Regelmäßigkeit Autos vom Zug erfaßt wurden. Das Wundern beginnt, wenn man sich einen solchen Bahnübergang bei Ta­geslicht und Sonnenschein besieht. Die Eisenbahn macht im Rottal relativ wenige Kurven und diese wenigen sind langgezogen und daher übersichtlich. Es kommt hinzu, daß der Zug vor jedem Übergang ein Pfeifsignal gibt. Nachts sind die Lichter des herannahenden Zuges weit zu sehen, in der ländlichen Gegend ist es dann so ruhig, daß er von weitem schon zu hören ist.
Und doch sind die Unfälle passiert.
Bemerkenswerterweise waren es fast immer Einheimische, die verunglückten, Leute aus der unmittelba­ren Umgebung des Unfallortes. Die beste Theo­rie, die mir zur Erklärung dieser erstaunlichen Tatsache einfällt, ist der Um­stand, daß der Rottaler zum einen auf den richtigen Gang seiner Uhr Wert legt, zum anderen großes Vertrauen hat in die Ordnung der Welt im Allgemeinen und der Bahn im Besonderen.
Auch wenn der Fahrplan der Bahn zweimal im Jahr geändert wurde, blieben die Zugverbindungen im Rottal über die Jahre hinweg gleich. Es kam hinzu, daß sich der Zugverkehr doch eher in Grenzen hielt, so daß der Rottaler den für ihn wichtigen Fahrplanausschnitt ziemlich gut im Kopf haben konnte - und hatte.
Wenn der Rottaler Bauer am späten Nachmittag auf seinem Feld arbeitete und den sich nahenden Zug hörte, so wußte er, daß es jetzt acht Minu­ten nach fünf sein mußte, weil dies nur der Fünf-Uhr-Zug aus München sein konnte. Und wenn er umgekehrt um 16:15 h an den Bahnübergang kam, wußte er, daß er nicht auf einen eventuell sich nahenden Zug achten mußte. Der Dreiviertelvier-Zug aus Passau war längst durch und der Fünf-Uhr-Zug aus München noch lange nicht fällig. Da demnach logischerweise gar kein Zug kommen konnte, achtete der ortsansässige Autofahrer um diese Zeit nicht auf einen Zug, der - wie gesagt - gar nicht kommen konnte.
Wenn aber...
Wenn zum Beispiel der Dreiviertelvier-Zug aus Passau eine halbe Stunde Ver­spätung hatte und an einem Bahnübergang auf einen jener Einheimischen traf, die Uhr und Gedächtnis mehr vertrauten als Augen und Ohren - dann waren die Grenzen der statistischen Fahrweise erreicht.
Diese Art, an die Sachverhalte des Lebens heranzugehen, mag auch manche der damaligen Unfälle auf der Straße erklären: Die wenigen Menschen, die über ein Automobil verfügten, schnitten unübersichtliche Kurven, weil Erfahrung sie gelehrt hatte, daß an diesem Ort und zu dieser Stunde ein entgegenkommendes Fahrzeug ausgesprochen unwahrscheinlich sei. Oder sie wußten aus eigener Anschauung, daß trotz hoher Geschwindigkeiten aus dieser Kurve noch nie einer rausgeflogen war. So kann man auch die Gedenksteine (oder Marterln) als eine Art Verkehrszeichen verstehen - in dem Sinn nämlich, daß sie dem Kundigen anzeigen: Hier ist schon mal jemand aus der Kurve geflogen, geh ein Stück vom Gas runter.
Sie mögen lachen und an soviel Seinszuversicht nicht glauben wollen. Ein Bekannter, drauf aufmerksam gemacht, daß er beim Linksabbiegen in sein Grundstück am Stadtrand nie blin­ken würde, gab zur Antwort, das Blinken sei in diesem speziellen Falle nicht nö­tig, da ohnehin jeder wisse, daß er hier immer in sein Grundstück abbiege.

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