...man kann auch Ästhetik sagen
Stell dir mal vor, du würdest auf dem Heimweg vom Einkaufen
unter einem schattigen Baum Rast machen und dir fiele ein Ast auf den Kopf.
Nach dem Aufwachen stelltest du - wie einst der 'Yankee aus Connecticut' von Mark Twain - fest, daß du im
Mittelalter gelandet bist. Du kämst in bunten Trainingshosen mit Rallyestreifen
und einem rotem, mit der Mona Lisa bedruckten T-Shirt an einen Fürstenhof, in
der Hand eine Einkaufstüte aus Plastik, darin einige Plastikflaschen mit
Coca-Cola und eine simple Malerfolie zum Abdecken der Möbel.
In einer Welt, in der die Gewinnung von Farben, vor allem von
kräftigen, beständigen Farben eine ungemein schwierige und teure Angelegenheit
ist, wirst du mit deinen bunten Hosen großes Aufsehen erregen. Das Rot deines
T-Shirts weist dich als Fürsten oder superreichen Menschen aus, denn Rot ist
nicht umsonst die Farbe der Könige gewesen - Farbe aus der Purpurschnecke war
extrem teuer. Das T-Shirt mit der Mona Lisa muß auf den mittelalterlichen
Menschen wie ein handgemaltes Bild wirken, anders kann er sich das nicht
erklären. Da trägt einer das Gemälde eines echten und wahren Meisters ganz
einfach als Hemd spazieren! Die Plastiktüte - kannst du dir vorstellen, was für
einen Eindruck dieses zarte, leichte und dennoch so kräftige Material machen
muß, verschwenderisch mit kräftigen Farben bemalt? Und nun gar die Malerfolie,
dieses wirklich hauchzarte, durchsichtige Material, das dennoch vergleichsweise
reißfest ist? Die Plastikflaschen aus diesem ultraleichten, fast körperlosen
Glas - absolut phantastisch, herrlich, wunderbar. Vom Coca-Cola mit seiner
extremen Süße, zu einer Zeit, da die begehrte Geschmacksrichtung 'süß' nur mit
Honig und Früchten zu haben war.
Diese Art von unglaublich feiner und ätherischer Schönheit,
die wir gar nicht mehr wahrnehmen, wäre für einen mittelalterlichen Menschen
gar nicht oder nur mit ungeheurem Aufwand an Geld (sprich: Arbeitszeit und
Geschicklichkeit) herstellbar. Also muß im Verständnis eines mittelalterlichen
Menschen einer, der über so was verfügt, ein ungeheuer reicher und mächtiger
Mensch sein. Das wäre ich auch gerne. Ach, wie schön ist der gekleidet und
welche überirdisch schönen Dinge trägt er bei sich!
Für eine dieser hauchdünnen, nahezu voll durchsichtigen
Maler-Abdeckfolien hätte man dir in den alten Zeiten nahezu jeden Preis
bezahlt, so vernarrt wäre man in dieses phantastische, wunderschöne Material
gewesen.
Was ich sagen will: Schönheit ist keine Sache, die unabhängig
von meiner sozialen Umwelt existiert, sie ist sozial und - ja, auch -
ökonomisch bestimmt. Dinge sind schön, weil sie selten sind und weil sie selten
sind, sind sie schwer zu erlangen und also teuer. Und weil sie teuer sind, kann
man damit angeben, man streicht durch ihren Besitz seinen sozialen Rang heraus.
Geld macht (wie Brecht einst schrieb) nicht nur sinnlich, sondern auch schön.
Noch nicht mal die Natur ist voraussetzungslos schön,
einfach so. Die Schönheit der Natur kostet zwar zunächst nichts, der Bergwald
steht da, ist von selbst entstanden, ist - zumindest ganz weit oben - auch von
niemandem weiter gepflegt worden, was Kosten verursacht hätte. Und der Mensch
früherer Zeit hat tatsächlich keinen Blick für die Schönheit der Natur gehabt.
Ein Begriff wie 'Landschaft' im Sinne von: 'landschaftliche Schönheit an sich'
ist eine Erfindung des späteren 18. Jahrhunderts.
Der Bergbauer, dem der Berg, der Bergwald, der Gletscher
ständig vor der Nase steht, wird deren Schönheit nicht weiter empfinden. Für ihn
ist der Gletscher, der Bergwald eine Bedrohung, von welchem aus im Winter
Lawinen herunterdonnern können. Für den Handeltreibenden, den Kriegsmann
(nahezu die einzigen, die früher gereist sind) sind die Alpen zunächst nichts
anderes als eine ungemein lästige und - vor allem im Winter - gefährliche
Barriere zwischen Süddeutschland und Oberitalien.
Je weiter die technische Zivilisation fortgeschritten ist,
desto mehr ist es gelungen, die Natur zu zähmen oder doch nach Belieben zu
formen. Mit dem Beginn der bürgerlichen Kultur ist der Mensch in großem Maßstab
in die Städte gezogen, dort, wo Natur nicht mehr zu haben war, auf jeden Fall
nicht mehr zum Nulltarif. Ein Garten mit Wiese und Bäumen ist in der Stadt eine
rare Kostbarkeit, die gigantische Natur draußen ist nur noch mit Mühen und
Kosten zu erreichen.
Die romantische Wertschätzung der Natur ist nicht ohne Grund
erst dann entstanden, als diese Natur im Zuge der heraufkommenden
Industrialisierung mehr und mehr zurückgedrängt worden ist. Der verbliebene Wald
war schön ab dem Moment, da in einigen Wäldern Fabriken entstanden, die das
Holz des Waldes verfeuerten und so den Wald zerstörten.
Es gab mal eine Zeit (in den fünfziger Jahren), da waren die
Leute ganz wild auf Nyltest-Hemden und Nylonstrümpfe. Diese Sachen waren so
begehrt und galten als so schön wie Vergleichbares aus Seide.
Ich glaube, mich zu erinnern, daß seinerzeit für kurze Zeit Nylons
sogar noch begehrter waren als
Seidenstrümpfe. Aber gut, ich kann mich im Detail auch irren. Ich war
seinerzeit um die 8 Jahre rum, mein Interesse an Damenbeinen und den zugehörigen
Nylonstrümpfen war noch nicht sonderlich ausgeprägt.
Innerhalb ganz kurzer Zeit gelang es dann,
Plastikgegenstände in hohen Stückzahlen und damit sehr billig herzustellen, der
Zauber dieses Werkstoffs war damit ein für alle Mal dahin. Ein Plastikglump
halt.
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