Samstag, 14. September 2019

Der Rot-Blaue Stuhl von Gerrit Rietveld

Ich muß gestehen, ich weiß nicht, wie gut man in der Kunstgeschichte bewandert sein muß, um Gerrit Rietveld und seinen Rot-Blauen Stuhl zu kennen. Ich bin eher zu­fällig auf Rietveld und seinen Stuhl gestoßen. Wir - das heißt meine inzwischen verstorbene Frau und ich -hatten damals die Website eines kleinen Apartment-Hotels vom Italienischen ins Deutsche zu übersetzen. Man warb für das Etablissement unter anderem mit dem Hinweis, im Apartment "Luna" stehe eine Reproduktion des Rot-Blauen Stuhls zur gefälligen Benutzung.
Wir haben uns damals kundig gemacht. Gerrit Thomas Rietveld war ursprünglich Schreinermeister, entwickelte sich dann aber zu einem der bedeutendsten Architekten und Designer der De-Stijl-Gruppe.
Die Künstlergruppe De Stijl formierte sich um eine gleichnamige niederländische Zeitschrift für Bildende Kunst, die von Theo van Doesburg herausgegeben wurde und zwischen 1917 und 1932 erschien. 1917 entwarf Gerrit Rietveld seinen "Rot-Blauen Stuhl" ("Rood Blauwe Stoel"). Ursprünglich war der Stuhl in den für De Stijl charakteristischen Farben Schwarz, Grau und Weiß gehalten. Beeinflußt von den Gemälden Piet Mondrians übernahm Rietveld 1923 die für Mondrian typische Farbgebung.
Ein Stuhl ist ein Gebrauchsgegenstand, auch ein von einem Designer entworfener Stuhl ist von vorneherein auf die massenhafte, industrielle Fertigung dieses Stuhlmodells ausgelegt. Ein industriell hergestellter Stuhl gleicht exakt dem anderen, das Original (sagen wir besser: der Prototyp) dieses Stuhls ist nicht besser oder schlechter als eine der unzähligen Kopien. Packt man den Prototyp und versteckt ihn im Lager irgendwo zwischen vielen, vielen Industriestühlen des gleichen Typs, so wird er auf ewig unauffindbar bleiben.
Das Original des Rot-Blauen Stuhls befindet sich im Besitz des Stedelijk Museums in Amsterdam und wird dort stolz präsentiert. Würde das Museum den Stuhl je verkaufen, so erzielte es einen sehr hohen Preis, unvergleichlich viel höher als es der Preis wäre, würde Rietvelds Stuhlmodell in einem Möbelhaus angeboten.
Der besondere Witz an Rietvelds Stuhl ist der Umstand, daß Rietveld, obwohl selber Schreinermeister, den Stuhl zwar entworfen hat, gebaut hat den "Original"-Stuhl aber ein gewisser Gerard van de Groenekan.
Selten wird es so deutlich, daß der im Museum stehende Original-Stuhl eine Erfindung menschlicher Phantasie ist. Die künstlerische Leistung Rietvelds bestand in der Idee des Stuhls, die er auf Papier festgehalten hat und dann in Holz hat bauen lassen. Diese künstlerische Idee des Stuhls teilt sich dem Kunstfreund oder auch einem gewöhnlichen Hinsetzer bei jedem Exemplar der Baureihe in gleicher Weise mit.
Der Kunstfreund und Hinsetzer hat bei einem industriell gefertigten Stuhl überdies den nicht hoch genug zu schätzenden Vorteil, daß er bei einem im Laufe des Gebrauchs unvermeidlichen Kratzer in der Lackierung oder sonst einer Abnutzungserscheinung nicht mehrere hunderttausend Euro Wertverlust hinnehmen muß. Einmal über den Kratzer lackieren und die Kunst ist wieder hergestellt.
Ein Studienfreund von mir war mal von einer Stuhlkreation der dänischen Firma "Den Permanente" [1] fasziniert. Der Kauf dieses Meisterwerks dänischen Kunsthandwerks hätte sein Budget weit überstiegen, so daß er sich den Katalog hat schicken lassen und anhand der zwei, drei Photos aus verschiedenen Perspektiven den Stuhl nachgebaut hat. Ich durfte den fertigen Stuhl besichtigen, wirklich hypsch. Ich durfte seinen Stuhl auch bearschen, das Ding hielt, was die Bilder versprochen hatten.
Ich bin gerne wieder aufgestanden. So richtig bequem - was ich von einem Stuhl zuvörderst erwarte - war er nicht. Mein Hintern ist doch deutlich konservativer als mein Kopf.



[1]   Der Laden von "Den Permanente" in Kopenhagen ist in Hitchcocks Film "Der zerrissene Vorhang" für weniger als eine Minute ein Schauplatz. Ich bin mir nicht sicher, aber ich glaube, daß die Agenten bei der einen Tür rein- und bei der anderen wieder rausgegangen sind.

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