Ich muß gestehen, ich weiß nicht, wie gut man in der
Kunstgeschichte bewandert sein muß, um Gerrit Rietveld und seinen Rot-Blauen
Stuhl zu kennen. Ich bin eher zufällig auf Rietveld und seinen Stuhl gestoßen.
Wir - das heißt meine inzwischen verstorbene Frau und ich -hatten damals die
Website eines kleinen Apartment-Hotels vom Italienischen ins Deutsche zu
übersetzen. Man warb für das Etablissement unter anderem mit dem Hinweis, im
Apartment "Luna" stehe eine Reproduktion des Rot-Blauen Stuhls zur
gefälligen Benutzung.
Wir haben uns damals kundig gemacht. Gerrit Thomas Rietveld
war ursprünglich Schreinermeister, entwickelte sich dann aber zu einem der
bedeutendsten Architekten und Designer der De-Stijl-Gruppe.
Die Künstlergruppe De Stijl formierte sich um eine
gleichnamige niederländische Zeitschrift für Bildende Kunst, die von Theo van Doesburg
herausgegeben wurde und zwischen 1917 und 1932 erschien. 1917 entwarf Gerrit
Rietveld seinen "Rot-Blauen Stuhl" ("Rood Blauwe Stoel").
Ursprünglich war der Stuhl in den für De Stijl charakteristischen Farben
Schwarz, Grau und Weiß gehalten. Beeinflußt von den Gemälden Piet Mondrians
übernahm Rietveld 1923 die für Mondrian typische Farbgebung.
Ein Stuhl ist ein Gebrauchsgegenstand, auch ein von einem
Designer entworfener Stuhl ist von
vorneherein auf die massenhafte, industrielle Fertigung dieses Stuhlmodells
ausgelegt. Ein industriell hergestellter Stuhl gleicht exakt dem anderen, das
Original (sagen wir besser: der Prototyp) dieses Stuhls ist nicht besser oder
schlechter als eine der unzähligen Kopien. Packt man den Prototyp und versteckt
ihn im Lager irgendwo zwischen vielen, vielen Industriestühlen des gleichen
Typs, so wird er auf ewig unauffindbar bleiben.
Das Original des Rot-Blauen Stuhls befindet sich im Besitz
des Stedelijk Museums
in Amsterdam und wird dort stolz präsentiert. Würde das Museum den Stuhl je
verkaufen, so erzielte es einen sehr hohen Preis, unvergleichlich viel höher
als es der Preis wäre, würde Rietvelds Stuhlmodell in einem Möbelhaus
angeboten.
Der besondere Witz an Rietvelds Stuhl ist der Umstand, daß
Rietveld, obwohl selber Schreinermeister, den Stuhl zwar entworfen hat, gebaut
hat den "Original"-Stuhl
aber ein gewisser Gerard van de Groenekan.
Selten wird es so deutlich, daß der im Museum stehende
Original-Stuhl eine Erfindung menschlicher Phantasie ist. Die künstlerische
Leistung Rietvelds bestand in der Idee
des Stuhls, die er auf Papier festgehalten hat und dann in Holz hat bauen lassen. Diese künstlerische Idee des
Stuhls teilt sich dem Kunstfreund oder auch einem gewöhnlichen Hinsetzer bei jedem Exemplar der Baureihe in gleicher Weise mit.
Der Kunstfreund und Hinsetzer hat bei einem industriell
gefertigten Stuhl überdies den nicht hoch genug zu schätzenden Vorteil, daß er
bei einem im Laufe des Gebrauchs unvermeidlichen Kratzer in der Lackierung oder
sonst einer Abnutzungserscheinung nicht mehrere hunderttausend Euro Wertverlust
hinnehmen muß. Einmal über den Kratzer lackieren und die Kunst ist wieder
hergestellt.
Ein Studienfreund von mir war mal von einer Stuhlkreation
der dänischen Firma "Den Permanente" [1]
fasziniert. Der Kauf dieses Meisterwerks dänischen Kunsthandwerks hätte sein
Budget weit überstiegen, so daß er sich den Katalog hat schicken lassen und
anhand der zwei, drei Photos aus verschiedenen Perspektiven den Stuhl nachgebaut
hat. Ich durfte den fertigen Stuhl besichtigen, wirklich hypsch. Ich durfte
seinen Stuhl auch bearschen, das Ding hielt, was die Bilder versprochen hatten.
Ich bin gerne wieder aufgestanden. So richtig bequem - was
ich von einem Stuhl zuvörderst erwarte - war er nicht. Mein Hintern ist doch deutlich konservativer als mein Kopf.
[1] Der Laden von "Den Permanente" in
Kopenhagen ist in Hitchcocks Film "Der zerrissene Vorhang" für
weniger als eine Minute ein Schauplatz. Ich bin mir nicht sicher, aber ich
glaube, daß die Agenten bei der einen Tür rein- und bei der anderen wieder rausgegangen
sind.
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