Die Differenz zwischen Promilleformeln und tatsächlichem Meßwert
In der Rubrik A - Z der
Alltagsredaktion des FREITAG erzählt Kathrin Zinkant von einem -
anscheinend selbsterlebten - Vorfall als alkoholbeschwingte Radlerin:
Wer rechnet als Radfahrer mit sowas? Kurz nach
Mitternacht, Polizei von rechts. „Sie fahren Schlangenlinien. Haben Sie
getrunken?“ „Naja. Ja.“ „Wieviel?“ „Hm. Halben Liter Rotwein?“ Die Polizisten
lachen sehr laut. „Na, dann pusten wir mal.“ Mist. Viel mehr getrunken als
zugegeben. Was tun? Verzweiflungsstrategie: Langsam pusten. Das Gerät streikt.
Nochmal, bisschen fester. Der Messfehler des elektrochemischen Handmessgeräts
Dräger 7140 ist klein, höchstens o,o5 Promille. Schummeln nicht möglich.
Rauchen kann das Messergebnis erhöhen. Eine Flasche Rotwein für eine Frau von
60 Kilo ergeben laut Online-Rechner-Widmarkformel 1,93 Promille. Oder (andere
Website) nur 1,61. Rauchen nicht einberechnet. Schnaps aufs Haus auch nicht.
Der nie gemachte Führerschein rückt in weite Ferne. Das Gerät piept. 0,81.
Verwunderung. Und die Erkenntnis: Formeln lügen.
Mich verwundert diese
Geschichte überhaupt nicht. Über den Zusammenhang zwischen der aufgenommenen
Alkoholmenge und der dann zu messenden Blutalkoholkonzentration sind eine Menge
schauerlicher Legenden im Umlauf. Besonders schauerlich ist dabei der Umstand,
daß diese Legenden von Fachleuten, also von Verkehrspsychologen -
MPU-Gutachter, bzw. MPU-Berater - verbreitet werden. Nicht wenige Kollegen
bedienen sich der Formeln der Promillerechner, weigern sich dabei standhaft,
diese Werte anhand eines heroischen Selbstversuchs - notfalls mit geliehenem
Alkomaten - nachzuprüfen.
Nach der sogenannten WIDMARK-Formel
Alkoholmenge in Gramm
Alkoholgehalt in Promille = -----------------------------------------
Körpergewicht in kg x 0,7
errechnet sich für eine Person von durchschnittlichem
Körpergewicht (75 kg) pro Standardglas (8 g reiner Alkohol, das entspricht 0,2
l Bier von 4,8 %) eine Blutalkoholkonzentration von ca. 0,15 Promille.
Wenn man die obige Faustformel auf größere Mengen Alkohol
anwenden will, muß man natürlich berücksichtigen, daß der Alkoholabbau bereits
beginnt, wenn der erste Tropfen Alkohol in der Leber ankommt. Noch während ich
trinke, ist der Abbau in vollem Gange. Man rechnet in den frommen Alkoholbroschüren
gemeinhin mit einem Abbaufaktor von 0,1 Promille pro Stunde. Dieser Wert
erscheint allerdings für eine trainierte, aber noch nicht kaputtgemachte Leber
als sehr niedrig.
Wenn ein der Trunkenheitsfahrt Beschuldigter nicht auf
frischer Tat ertappt und aus dem Auto gezerrt wird, sondern erst mit
Verzögerung festgenommen werden kann, besteht meist der Verdacht auf Nachtrunk.
In diesem Falle läßt die Polizei zwei Blutproben im Abstand von 20 bis 30
Minuten machen. Schaut man sich die Blutentnahmeprotokolle an, so ist der
zweite Meßwert meistens um ca. 0,1 Promille niedriger als der erste. Auf die
volle Stunde hochgerechnet läßt sich daraus leicht ein Alkoholabbau von 0,2 bis
0,3 Promille errechnen.
Bleiben wir aber bei der vorsichtigen Rechnung und nehmen
wir, um die Sache nicht noch komplizierter zu gestalten, als Faustformel 0,1
Promille für das Standardglas an, den Abbau schon eingerechnet. Dabei ist ein
in Gesellschaft übliches Trinktempo vorausgesetzt.
Das heißt, für 2,0 Promille braucht nach der WIDMARK-Formel
ein normal gebauter Mann, der nicht gar zu hastig trinkt, immerhin 20 Gläser
Bier à 0,25 l, entsprechend 10 Halbe-Krüge Bier oder 8 Viertelgläser Wein
(knapp drei Flaschen Wein á 0,7l) oder 20 Schnäpse à 0,02 l (gut eine halbe
Flasche Schnaps).
Und selbst das ist letztlich pure Theorie. Was in der
einfachen WIDMARK-Formel nämlich noch nicht vorkommt, ist das sogenannte
Resorptionsdefizit. Darunter versteht man das Phänomen, daß ein gar nicht mal
so kleiner Teil des getrunkenen Alkohols unverarbeitet durch den Körper wieder
ausgeschieden wird, also nicht in den Blutkreislauf übergeht. Dieses
Resorptionsdefizit ist individuell sehr verschieden, liegt zwischen 5 Prozent
und immerhin 45 Prozent. Ein Resorptionsdefizit von 45 Prozent heißt:
knapp die Hälfte des überhaupt getrunkenen Alkohols rauscht unverarbeitet in
die Blase und von dort ins Wirtshausurinal.
So wie es beim Essen gute und schlechte Futterverwerter
gibt, gibt es auch beim Trinken Menschen, die den genossenen Alkohol aufsaugen
wie ein Schwamm, während andere einen erheblichen Teil durchlaufen lassen.
Das heißt, die WIDMARK-Formel beschreibt die maximale
Obergrenze für die BAK. Der wahre Wert liegt in der Regel erheblich niedriger,
das heißt, um zwei Promille zu erreichen, sind eher deutlich mehr Gläser
Alkohol nötig, als oben dargestellt.
Im Rahmen ihrer Öffentlichkeitsarbeit veranstalten
Medizinisch-Psychologische Untersuchungsstellen gerne sog. „Trinkversuche“. Es
werden Rechtsanwälte, Verwaltungsbeamte, Journalisten etc., kurz: Leute, die
entweder berufsmäßig mit Alkohol am Steuer zu tun haben oder eine große Wirkung
nach außen garantieren, eingeladen. Die Gäste bekommen alkoholische Getränke
serviert. Der Unterschied zu einem normalen Gelage besteht lediglich darin, daß
jemand (einer, der nüchtern bleiben muß) den Konsum der einzelnen Gäste
festhält, sich auch Notizen über die Veränderung des Verhaltens der einzelnen
Testteilnehmer macht. Zu Beginn, am Ende und in gewissen Zeitabständen
dazwischen werden mit einem Alkotestgerät die Promille gemessen.
Vor einigen Jahren konsumierte bei solch einem Trinkversuch
ein 84 kg schwerer Mann im Verlaufe von vier Stunden 6 Glas Bier (á 0,5 l) und
vier Gläser Schnaps (á 2 cl). Als Faustregel läßt sich sagen daß vier Standardgläser
Schnaps dem Alkoholgehalt von einem Liter Bier entsprechen. Unser „Trinker für
die Wissenschaft“ hatte also im Verlaufe von vier Stunden den Alkoholgehalt von
8 Glas Bier - entsprechend vier Liter - konsumiert. Wie dies nach acht Bier
nicht weiter verwunderlich sein dürfte, hatte er ganz erhebliche Probleme mit
seiner Standfestigkeit, geschweige seinem Gehvermögen, die Aussprache war
schwer beeinträchtigt, kurz: Der Mann war betrunken und alles in allem von
jeder Fahrtüchtigkeit weit entfernt.
Gemessen wurden bei diesem Mann 0,79 Promille.
Die Wahrheit, nach
und nach
In Nachschulungskursen für alkoholauffällige Kraftfahrer
bediene ich mich gerne dieser Geschichte. Erzähle ich sie in der ersten
Sitzung, bei der man eben dabei ist, sich kennenzulernen und Vertrauen
zueinander zu fassen, dann ist die Reaktion fast immer demonstratives Erstaunen
und fassungslose Ungläubigkeit: „Das gibt es nicht, das glaub’ ich nicht. Ich
habe doch damals - bei meiner eigenen Trunkenheitsfahrt - nur so wenig Bier und
doch so viel Promille gehabt!.“
In der dritten, vierten Sitzung, wenn die Leute aufgetaut
sind und aufgehört haben, sich vor mir als Kursmoderator zu fürchten, hört sich
dann alles ganz anders an. Da erzählt dir dann einer, er habe sich damals bei
der MPU gar nicht getraut, seine wahre Trinkmenge anzugeben. Von vier Bier habe
er gesprochen und der Psychologe habe bloß müde gelächelt. Jetzt könne er es ja
sagen, es seien acht Bier gewesen, mindestens. Gemessen habe man seinerzeit bei
ihm 0,82 Promille. Und ein 90 kg schwerer Bauarbeiter erzählt, er habe sich mal
in anderthalb Stunden „sechs Hoibe
einegschteßn“ (sechs halbe Liter Bier getrunken). Auf der Heimfahrt sei er
in eine Alkoholkontrolle geraten. Er sei sich sicher gewesen, daß jetzt der
Führerschein weg sei und habe den Polizisten seine sechs Bier vor der Fahrt
gestanden. Gemessen habe man dann bei ihm lächerliche 0,3 Promille und jeder,
einschließlich der Polizisten, habe gedacht, der Alkomat wäre hin. In einem
anderen Kurs erzählt ein kleiner, drahtiger Mann von ganz bestimmt weniger als
70 kg, er habe bei seinem ersten Delikt 2,2 Promille gehabt. Er könne sich noch
gut dran erinnern, daß er vor dem Fahren einen Kasten Bier und eine
Flasche (Jack Daniels (American Whiskey) getrunken habe.
Gehen Sie davon aus, daß bei einem Mann von 80 kg ein Kasten
Bier (20 Flaschen á 0,5 Liter) nötig ist, um ihn auf zwei Promille zu bringen.
Eher mehr als weniger.
In der allerbesten Absicht, nämlich den ahnungslosen
Autofahrer durch möglichst drastische Informationen möglichst nachhaltig vom
alkoholisierten Fahren abzuhalten, haben wohlmeinende Verkehrspsychologen und
-mediziner viele Jahre lang gelogen - und tun es noch.
In gutgemeinten Aufklärungsbroschüren zum Thema „Alkohol am
Steuer“ haben sie dem Bürger einzureden versucht, er wäre bereits nach dem
Genuß des dritten Bieres in Gefahr, an der damals noch geltenden
0,8-Promille-Grenze zu scheitern. Das ist doch nicht so schlimm, mag man
einwenden. Man setzt in der Propaganda eben die Schwelle, ab welcher Gefahr
besteht, ein bißchen niedriger an, als sie in Wirklichkeit ist, damit der
möglicherweise Gefährdete im Zweifelsfall eher übervorsichtig als zu nachlässig
ist.
Nicht minder wohlmeinende Eltern und Pädagogen haben
jahrzehntelang den Heranwachsenden die wilde Story vom bösen Haschisch erzählt
- und tun es noch. Es mache ganz schnell süchtig, sagten sie, hinterlasse
enorme körperliche und psychische Folgeschäden und vor allem: Der Konsum von
Haschisch ziehe fast unvermeidlich den prompten Einstieg in das noch
gefährlichere Heroin nach sich.
Die mit dieser Geschichte geimpften Jugendlichen lernten
dann irgendwann Konsumenten von Haschisch kennen, Leute, die seit Jahren schon
Haschisch konsumierten. Weder waren diese Leute an Körper und Geist kaputte
Menschen, noch waren sie süchtig, noch jemals auf Heroin umgestiegen. Die
Erfahrung mit der Lüge Haschisch verleitete dann manche zu dem Kurzschluß, es
müßten auch die wilden Geschichten über Heroin Lügen sein.
Ein fataler Irrtum.
In unserem Fall führt die wohlmeinende Propagandalüge der
Verkehrssicherheitspropaganda dazu, daß der biedere Bürger, der sich zum
Fernsehen auch mal zwei Bier gönnt, diese Menge auf etwa 0,5 Promille
hochrechnet und schließlich davon ausgeht, davon ausgehen muß, daß sein
Arbeitskollege, den man mit zwei Promille erwischt hatte, mal eben von 4 oder 5
oder 6 Bierchen genascht hat - einer Menge, die er sich zur Not auch bei sich
selber vorstellen könnte.
All das Theater, welches Justiz und Behörden mit diesem
Arbeitskollegen veranstalten, von der enormen Geldstrafe über den
Führerscheinentzug bis zur Medizinisch-Psychologischen Untersuchung muß ihm
unter solchen Voraussetzung absolut überzogen und schikanös erscheinen. In dem
sicheren Bewußtsein, daß ein solches Schicksal auch ihm passieren könnte, wenn
es denn nur ein bißchen dumm liefe, solidarisiert er sich mit seinem Kollegen,
ohne das wirkliche Ausmaß von dessen Alkoholmißbrauch je begriffen zu haben.
Das ist die Gefahr.
lieber Woifram,
AntwortenLöschenhast Du das schon gelesen, eine Pilotin ist mit 1,46 Promille am Steuer eines Autos erwischt worden. Sie war auf einem Flohmarkt und hat Sachen verkauft, ihre Freudin hat eine Flasche Schampus dabeigehabt.
http://www.sueddeutsche.de/muenchen/verhandlung-am-amtsgericht-pilotin-mit-promille-erwischt-1.1897275
einen schönen Gruß
Schachnerin
"hast Du das schon gelesen, eine Pilotin ist mit 1,46 Promille am Steuer eines Autos erwischt worden. Sie war auf einem Flohmarkt und hat Sachen verkauft, ihre Freudin hat eine Flasche Schampus dabeigehabt."
LöschenDankschön für den Link. Zu dritt eine Flasche Schampus und dann 1,45 ‰... Die Polizisten werden gelacht haben.
Ciao
Wolfram