Sonntag, 4. Juni 2023

Ich lispele, also bin ich wer

Aufgefallen ist mir das Phänomen des Kulturlispelns zuerst bei Marcel Reich-Ranicki, was nicht verwunderlich ist, denn sein Lispeln war doch sehr ausgeprägt. Ich bin diesem Lispeln nicht weiter nachgegangen, jedenfalls nicht bewußt, weil's nun wirklich wurscht ist, ob einer lispelt oder nicht. Aber - Sie werden diesen Effekt wahrscheinlich kennen - wenn Ihre Aufmerksamkeit mal auf einen Umstand gelenkt worden ist, dann taucht dieser vordem von dir völlig ignorierte Umstand plötzlich an jeder Straßenbiegung auf.

Der lispelt und jener auch sagte ich mir von da an oft und öfter. Jedes Mal wenn ich das Radio einschalte oder einen Podcastbeitrag anhöre, höre ich einen oder gar alle in diesem Beitrag lispeln. Das Lispeln ist meist nicht sonderlich ausgeprägt aber doch hörbar vorhanden. Wenn du dich von einem Phänomen in interesselosem Wohlgefallen anmuten läßt, wirst du relativ bald eine Regelhaftigkeit erkennen. Und siehe, die Regel lautet: Es sind die Kulturschmocks die lispeln, Kulturproduzenten wie Kulturkritiker. Weil? Weil dieses Lispeln das Gesprochene mit einem Hauch von Sensibilität und Hoher Bildung überzieht.

Ich mache die Gegenprobe und höre mich in der echtem und wahren Wirklichkeit um. Was soll ich euch sagen: Ich habe noch niemals einen Klempner oder Gärtner oder Zugschaffner lispeln hören! Ich meine jetzt nicht das Lispeln wegen eines massiven Gaumen- oder Zahnfehlstandes oder einer zu kurzen oder langen Zunge, sondern dieses zarte, sensible Lispeln, das auf mich wirkt wie der weggestreckte kleine Finger, wenn ein vornehmer Mensch eine Kaffee- oder Teetasse zum Munde führt.

Lispeln als intellektuelles Statussymbol! Daß ich da nicht schon früher draufgekommen bin...

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