Alkoholberatung - Eine Szene
Gang im Amt
Ein langer, behördenmäßig wirkender
Gang in einer Behörde. Ein etwas - aber wirklich nur: etwas - derangiert
wirkender Mann geht, die Türschilder absuchend, den Gang entlang. Schließlich
kommt er an eine Tür mit der Aufschrift: "Alkoholberatung". Er klopft.
STIMME (von drinnen) Herein!
Der Mann tritt ein.
Büro im Amt
Ein kleines, behördenmäßig wirkendes
Zimmer in einer Behörde. Hinter dem Schreibtisch ein Beamter, wohl der
Alkoholberater, vertieft in irgendwelche Akten. Er schaut aus den Akten auf,
blickt seinen Besucher von unten forschend und wenig freundlich an.
BERATER (barsch) Sie
wünschen?
BESUCHER Ich möchte... (druckst) ...ich hätte einen
Termin...
BERATER Sie hätten? Haben Sie nun oder hätten Sie nur gerne?
BESUCHER Ich habe.
BERATER Hunger? Kinder? Zahnweh?
BESUCHER Einen Termin.
BERATER Einen Termin?
BESUCHER (nickt) Bei
Ihnen.
BERATER Bei mir?
Er schlägt einen dicken Chefkalender auf und blättert ziellos darin. Während seines
Blätterns ist deutlich zu sehen, daß alle Seiten des Kalenders ohne Eintragung
sind. Endlich hat er doch eine Seite mit Eintrag gefunden.
BERATER Wenn Sie "Lenz" heißen...
BESUCHER Heiße ich.
BERATER Und heute der... (kurzer Blick zurück in den Kalender)
...achte Februar ist...
BESUCHER Das ist es.
BERATER Dann haben Sie einen Termin bei mir.
Der Blick des Beraters bleibt an einem Wandkalender hängen, auf
eine rote 8 steht.
BERATER (triumphierend) Nur ist der achte Februar
leider ein Sonntag.
BESUCHER (nickt)
Achtundneunzig ja. Aber wir haben
neunzehnhundertneunundneunzig.
BERATER Oh!
Ein genauerer Blick auf den Wandkalender zeigt, daß der Besucher
recht hat.
BERATER (zu sich) Das
erklärt natürlich, warum ich heute im Büro bin.
Der Berater wird geschäftsmäßig.
BERATER Bitte! (deutet
auf den Besucherstuhl) Was kann ich für Sie tun?
Der Besucher nimmt vorsichtig Platz, wobei er nur die vordere
Hälfte der Sitzfläche in Anspruch nimmt.
BESUCHER (langsam,
zögerlich) Nun, es ist... Meine Frau meint... (gibt sich einen Ruck, spricht auf einmal
ganz schnell) Es ist wegen dem Trinken und ich sollte mal zur
Alkoholberatung gehen.
BERATER (scharf,
vorwurfsvoll) Sie trinken?
Der Besucher nickt zerknirscht mit dem Kopf.
BERATER (vorwurfsvoll ungläubig) Alkohol?
Wieder nickt der Besucher, begleitet von einem leisen Schluchzen,
während er schuldbewußt in sich zusammensackt. Der Berater, der alles, was er
bisher machte, langsam, fast träge gemacht hat, taucht blitzschnell nach unten
und zaubert mit einem einzigen Griff eine Schnapsflasche ohne Etikett,
zusammen mit zwei Gläsern im Senfglasformat, auf die Arbeitsfläche seines
Schreibtisches. Die Flasche ist zur Hälfte mit einer wasserklaren Flüssigkeit
gefüllt.
BERATER Darf ich Ihnen etwas anbieten?
BESUCHER Äh, nun... Ich dachte eigentlich... (kurzer Moment des
Überlegens, der Versuchung, dann Entschluß) Ja, bitte.
Der Berater gießt in beide Gläser reichlich ein, schiebt das eine
Glas seinem Besucher hin.
BERATER (hebt sein
Glas) Prost!
Der Besucher nimmt das Glas, zögernd, hebt es.
BESUCHER Prost.
Während der Besucher einen höflich kleinen Schluck nimmt, trinkt
der Berater sein Glas in einem Satz leer. Jetzt traut sich auch der Besucher
und Schwupp-di ist sein Glas ebenfalls leer.
BERATER Das war... (deutet fragen, Antwort erwartend auf den
Besucher)
BESUCHER (Unsicher,
ratend) Spitze?
BERATER (winkt ärgerlich
ab) Welches Getränk?
BERATER (verdreht die Augen über soviel Einfalt nach oben)
Ran.
BESUCHER Ran?
BERATER Äh, Rum. Das war Rum.
BESUCHER Rum? Aber ich dachte, Rum wäre...
BERATER Braun. Sie dachten, Rum wäre braun?
Der Besucher nickt zustimmend.
BERATER (triumphierend) Jaaa, das denken viele. Was natürlich hauptsächlich daran
liegt, daß es richtig ist.
BESUCHER Aber...
BERATER Sie haben sich viel mit Philosophie beschäftigt?
BESUCHER Nnn... Nur wenig, eher.
Wissen Sie, in der Berufsschule...
BERATER Wenn Sie auch nur in die Anfangsgründe der Philosophie
eingedrungen sind, dann werden Sie wissen, daß es fahrlässig wäre, aus der
Richtigkeit eines Tatbestandes auf die Falschheit seines Gegenteils zu
schließen.
BESUCHER Ach?
BERATER Ja. (dozierend) Rum ist ein Branntwein, der
aus Zuckerrohr hergestellt wird. Zuckerrohr wird vor allem in der Karibik
angebaut und deshalb stammt auch der Großteil der Weltproduktion an Rum von
dort, genauer von den Antillen. Seine - wie Sie richtig erkannten -
charakteristische braune Farbe hatte er früher vom Holz der Fässer, in denen er
gelagert wurde, heute allerdings kommt sie hauptsächlich von zugesetzter,
sogenannter "Zuckercouleur", also braunem Zuckersirup. Brauner Rum hat
ein ausgesprochen kräftiges Aroma, während Weißer Rum (deutet auf die Schnapsflasche, gießt dann,
während er weiterredet, nochmal die beiden Gläser
voll, so daß die Flasche jetzt leer ist) einen erheblich zarteren
Geschmack besitzt.
Der Berater hebt sein Glas, der Besucher tut es ihm nach und
wieder leeren sie das Glas in einem Zug.
BERATER Schmecken Sie's?
BESUCHER Öh...
BERATER Schmeckt nach fast nichts.
BESUCHER Ja.
BERATER Außer einem leichten Nachgeschmack, der ein wenig an
Alkohol erinnert.
Der Berater lacht herzlich über seinen Witz, während er mit
eleganter, großer Geste die leere Flasche in den Papierkorb wirft, wo sie
klirrend auf eine anscheinend dort bereits befindliche Flasche trifft.
BERATER Ganz anders dagegen...
Der Berater taucht wieder in bewundernswerter Schnelligkeit und
Eleganz nach unten und holt aus dem Schreibtisch eine weitere Schnapsflasche
heraus, diesmal mit einer braunen Flüssigkeit.
BERATER ...der hier.
Obwohl die Flasche noch reichlich voll ist, gießt der Berater
eine winzige, gerade mal den Boden bedeckende Menge der Flüssigkeit in beide
Gläser.
BERATER Das ist brauner Rum.
Beide trinken, diesmal jedoch, angesichts der geringen Menge,
schlückchenweise, bedächtig, schlürfend, in der
Manier professioneller Weinkoster.
BESUCHER Schmeckt kräftiger, ja.
BERATER (diabolisch
grinsend) Ist aber kein Rum.
BESUCHER (trotzig, will sich nicht länger verarschen lassen)
Schmeckt aber wie Rum.
BERATER Jaaa... Zwischen Rum und "Rum"
liegen Welten. Was Sie hierzulande als "Rum" (spuckt das Wort verächtlich aus) zu
kaufen kriegen, sowas zum Beispiel (deutet auf die Flasche), ist
lediglich auf Trinkstärke verdünnter Originalrum.
BESUCHER Verdünnt?
BERATER (nickt)
Richtig. Mit Wasser verdünnt auf 38 bis knapp 50 Prozent. Auf Jamaica oder Haiti oder so wird dagegen Originalrum - und
das sind Wässerchen zwischen 65 und 80 Prozent - hergestellt und
abgefüllt.
BESUCHER (bewundernd)
Und getrunken?
BERATER Und getrunken.
Der Berater strahlt bei dieser Botschaft. Er bückt sich erneut zu
seinem Schreibtischfach hinunter und holt - diesmal allerdings schon ein
Stückchen langsamer und deutlich weniger elegant - eine dritte Flasche mit
brauner Flüssigkeit heraus. Er gießt für beide ein, diesmal wieder das ganze
Glas voll. Der Besucher riecht vorsichtig an seinem Glas.
BESUCHER Riecht stark.
BERATER Ist stark.
Der Berater hebt sein Glas, auch der Besucher greift danach.
BERATER Auf das Echte und Wahre!
Erneut kippen beide die braune Brühe wie Cola in ihren Hals.
Während der Berater auch diesen höchstprozentigen Schnaps mit unbewegter Miene
trinkt, muß der Besucher heftig jappsen und
husten.
BERATER (lacht) Wenn
er zu stark ist, bist du zu schwach. Apropos "du" - wie heißt du eigentlich?
BESUCHER (müht sich, zwischen zwei Hustenanfällen) Erwin.
BERATER Ich heiße Günther. Mit Te-Ha.
Apropos "Te-Ha" - was weißt du über Whisky?
BESUCHER Whisky? Ist auch ein Schnaps.
BERATER (kichert) Auch ein Schnaps. Mir scheint, du hast
wirklich eine gründliche Alkoholberatung nötig.
Der Berater bückt sich in sein Flaschendepot, recht langsam und
tapsig inzwischen, taucht nach einer Weile wieder auf.
BERATER Der Whisky, wo ist der Whisky?
Er geht bedächtig und konzentriert - was nötig ist - zu einem
verschlossenen Aktenschrank, läßt den Rollverschluß herunter. Der ganze
Aktenschrank ist voller - an den Regalböden säuberlich beschrifteter -
Schnapsflaschen.
BERATER Wh... Wh...
Er sucht in der Gegend des Buchstabens F.
BERATER (über die Schulter zum Besucher gewandt) Der Whisky muß
im Archiv...
Jetzt erst merkt er, daß sein Besucher inzwischen das Büro
verlassen hat.
Gang im Amt
Völlig geschafft, verwirrt mit dem Kopf wackelnd verläßt der
Besucher die Alkoholberatungsstelle. Er kramt ein wenig in den weiten Taschen
seines riesigen Regenmantels, holt schließlich einen Flachmann heraus und
nimmt gierig einen tiefen Zug.
BESUCHER (inbrünstig)
Aaahhh!
Eine junge Frau kommt beschwingten Schrittes und fröhlich summend
den Gang entlang, in der Armbeuge ein Aktenstapel. Sie geht an dem Besucher
vorbei, auf die Tür mit der Aufschrift "Alkoholberatung" zu. Der Besucher
versucht, sie mit einer erschrockenen Geste aufzuhalten.
BESUCHER Gehen Sie da nicht rein!
Die junge Frau schaut fragend.
BESUCHER Gehen Sie da um Himmels Willen nicht rein!
ANGESTELLTE Nein?
BESUCHER (entschieden) Nein. Da drinnen sitzt ein
Verrückter.
Die junge Frau lacht.
ANGESTELLTE Wem sagen Sie das? Aber Chef ist Chef.
Dreht sich um und ist auch schon im Büro der Alkoholberatung
verschwunden. Der Besucher nimmt einen weiteren Schluck aus seinem Flachmann.
Schlurft kopfschüttelnd davon.
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