Der Musikkritiker Ulrich Schreiber hat
1980 im Westdeutschen Rundfunk ein bemerkenswertes Experiment gemacht ([1]).
In einer Rundfunksendung wurden drei Interpretationen der 4. Sinfonie, der
"Romantischen", von Anton Bruckner gespielt ([2]).
Die Hörer hatten die Möglichkeit, telefonisch ihre Meinung zu äußern, das heißt
sie konnten die drei Interpretationen in eine Rangordnung bringen. Die
einzelnen Aufnahmen wurden von kurzen musikkritischen Stellungnahmen
eingeleitet, welche die verschiedenen Interpreten (Karl Böhm, Leonard Bernstein
und Herbert von Karajan) stilistisch einordnen sollten und dabei ganz bewußt
mit Klischees arbeiteten.
Der Haken war - es handelte sich jedesmal um die gleiche Aufnahme! Und: Sie stammte von keinem der drei vorgestellten
Dirigenten. Im Verlauf der Sendung riefen 563 Hörer an, die neben einigen
soziologischen Daten ihr Urteil in den Computer einspeisten. Dabei bezeichneten
sich 65 Prozent der Anrufer als Klassik-Spezialisten. Das Ergebnis: 30 Prozent
stimmten für Karajan, 28 Prozent für Bernstein und 23 Prozent für Böhm, 18
Prozent enthielten sich. Auf die Idee, daß hier manipuliert worden sein könnte,
kam kein einziger, kein einziger Anrufer
äußerte auch nur den Verdacht,
es habe sich um identische Musikbeispiele gehandelt.
Ein bißchen Wortgeklimper zur Einstimmung und der angebliche
Kenner sackt mit all seiner Sachkenntnis ein.
George Forestier, der falsche Fremdenlegionär
In den fünfziger Jahren erschien in Deutschland ein Band mit
Gedichten, in denen George
Forestier, ein ehemaliger Fremdenlegionär, seine erschütternden Erlebnisse
und Leiden während des Indochina-Kriegs verarbeitete. Forestier wurde damals
mit Ingeborg Bachmann in einem Atemzug genannt, einige stellten gar seine
Gedichte über die ihren. Sie beeindruckten in ihrer Wucht und Authentizität.
1955 stellte sich heraus, dass das Leben und Werk Forestiers
von Karl Emerich Krämer frei erfunden worden waren.
Krämer war alles mögliche (u. a. Nazi), aber er war weder in der Fremdenlegion
gewesen, noch kannte er Indochina aus eigener Anschauung.
Batsch! Mit einem Schlag war der Zauber seiner Verse
verflogen, niemand liest heute noch die Gedichte, in der Literaturgeschichte
kommt Forestier allenfalls noch als Kuriosität am Rande vor.
Literatur arbeitet fast immer mit der Einfühlung, das heißt
man erwartet von einem Schriftsteller nicht, daß er die dargestellten
Ereignisse tatsächlich selber erlebt hat, auch wenn er als Ich-Erzähler
auftritt. Karl May, der seinerzeit seine Geschichten ausdrücklich als selbsterlebt
ausgegeben hat, hat man seinen Schwindel verziehen, George Forestier nicht.
Ossian
Ein weiteres, noch interessanteres Beispiel, an dem sich
zeigen läßt, daß nicht nur Kunstexperten merkwürdige Menschen sind, sondern
auch Literaturkenner ist die Geschichte von Ossian. 1762 erschien in London die
englische Übersetzung eines uralten keltischen Epos. Der Text wurde auf ca. 500
bis 600 nach Christus datiert, war damit deutlich älter als alle (bis heute)
bekannten Sprach- und Literaturdokumente nord- und mitteleuropäischer Sprachen.
Der Autor war ein keltischer Barde namens Ossian, der in seinem Epos in
beeindruckend bildkräftigen Versen die Heldentaten seines Vaters und anderer keltischer
Heroen besang. Das intellektuelle Europa - unter anderem der junge Goethe, der
etwas später eine Übersetzung von Teilen des Ossian-Epos ins Deutsche
anfertigte - war begeistert von diesen Versen, von der archaischen Wucht, die
dem Leser entgegensprang.
In England blieb man weitgehend skeptisch, man wollte dem
barbarischen Volk der Schotten eine solche Kulturleistung einfach nicht zutrauen.
Das Mißtrauen wurde geschürt von dem Umstand, daß der Übersetzer, James McPherson,
den von ihm entdeckten gälischen Originaltext nicht und nicht veröffentlichen
wollte. Geraume Zeit später war dann ohne Zweifel erwiesen, daß James McPherson
den Text nicht übersetzt, sondern verfaßt hatte. Pschschsch, eine
Fälschung! Raus war der Zauber und die Verse waren plötzlich gar nicht mehr von
archaischer Wucht (was sie immer noch hätten sein müssen, wenn die Beurteilung
zuvor von Sachkenntnis geleitet worden wäre).
Das literarisches Kunstwerk und sein Autor
Das Kreuz nämlich ist, daß einerseits ein Text ein Text ist.
Andererseits aber ist ein Text auch kontextabhängig. Wenn der Satz "Erwin Pachulke hat, das versichere ich
hiermit als Augenzeuge, Herr Kommissar, um ca. 18.00 h den Juwelier
Rembremmerding überfallen und erschossen" in einem Polizeiprotokoll
steht, dann wird dieser Text nur solange belangvoll sein, bis sich erwiesen
hat, daß Erwin Pachulke, ausweislich einer Videoaufzeichnung, um ca. 18.00 h,
ca. 300 km vom Tatort entfernt sein Auto betankt hat. Oder bis Pachulke endlich
gehängt ist.
Ist derselbe Satz dagegen Teil eines literarischen
Kunstwerks, so verlieren weder der Satz als solcher, noch das literarische
Kunstwerk an sich das geringste, wenn sich herausstellt, daß der ehdem
geschätzte Autor ein - sagen wir mal - Serienmörder ist.
Künstler begehen eher selten Morde, das ist richtig,
gelegentlich aber begehen Mörder Kunst. Was ich sagen will: Der Hinweis auf den
Serienmörder ist kein ausgedachtes Beispiel. Der Österreicher Jack Unterweger ([3])
wurde wegen mehrerer Morde an Wiener Prostituierten verhaftet und schließlich
verurteilt. Während seiner Haftzeit startete Unterweger eine fulminante
Karriere als Häfenliterat (in Deutschland würde man Knastpoet sagen), er wurde
zum Liebling des österreichischen Feuilletons. Viele Prominente aus Kunst und
Politik (unter anderem Elfriede Jelinek, Günter Grass, Erich Fried) setzten
sich für seine Begnadigung ein. Unterweger wurde dann tatsächlich vorzeitig
entlassen und setzte anschließend seine Karriere als Serienmörder fort.
Ein literarisches Kunstwerk wirkt aus sich heraus. Tut es
das nicht, ist es kein Kunstwerk, sondern eine Zumutung. Der Text ist entweder
gut oder er ist es nicht, und er wird nicht besser oder schlechter dadurch, daß
ich irgendwas über den Autor erfahre. Ich habe mal aus relativer Nähe heraus
die Geschichte eines Journalisten erlebt, der unter anderem hochgelobte Bücher
geschrieben und als Ghostwriter für einen hochrangigen Würdenträger gearbeitet
hat. Dann ist er auf einmal verhaftet worden und wurde schließlich wegen einer
sexuellen Straftat zu einer Gefängnisstrafe verurteilt. Als die Vorwürfe gegen
ihn bekannt wurden ([4]),
hat sich der Würdenträger sofort von ihm distanziert und heftig abgestritten,
daß ihm der Mann die Reden geschrieben hätte, und die Bücher wollte auch keiner
mehr kaufen. Hm. Wie ich oben sagte: Wenn die Texte vorher gut waren (ich fand
sie nicht so toll, auch vorher nicht), dann sind sie es nach dem Skandal immer
noch.
Der Text selbst kann seinen Charakter nicht mehr verändern,
wenn er erstmal geschrieben ist. Was sich dagegen ändern kann, ist seine Wahrnehmung
und Interpretation, wobei letztere, wie gesehen, sehr stark von dem Gewese und
Getöse um den Text herum beeinflußt sein kann.
[1] Die Informationen verdanke ich dem Artikel "Erkennen Sie den
Interpreten?" von Reinhard Söll, Mittelbayerische Zeitung, 17.07.1982. Er
wiederum gibt als Quelle einen Artikel aus der Zeitschrift
"HiFi-Stereophonie" vom Januar 1981 an. Dort wurde das Experiment
detailliert beschrieben.
[2] Es wurden anscheinend nur Auszüge gespielt. Die 4. von Bruckner
dauert immerhin über eine Stunde.
[3] Der für einen Österreicher eher untypische Vorname Jack kommt von
seinem Vater, einem GI. Es ist kein Künstlername, obwohl Unterweger vor seiner
literarischen Karriere Aktionskünstler war (Bankraub etc.).
[4] Es wurde damals erst gegen ihn ermittelt, eine Anklage, geschweige
eine Verurteilung war noch in weiter Ferne.
Keine Kommentare:
Kommentar veröffentlichen