Montag, 3. Juli 2023

Mutmaßlicher Unfug

Während einer öffentlichen Bürgerfragestunde am 8. Januar 2011 schoß ein junger Mann in Tucson, Arizona der demokratischen Kongreßabgeordneten Gabrielle Giffords aus nächster Nähe in den Kopf, sie wurde schwer verletzt, überlebte aber. Nachfolgend wurden sechs Personen getötet, 13 weitere Personen wurden teilweise schwer verletzt. Der Attentäter wurde von anwesenden Personen überwältigt und anschließend von der Polizei verhaftet.

Auf der Website der Tageschau las ich damals den Anreißer für einen TV-Bericht über das Massaker von Tucson:

"Nach dem Anschlag auf die Kongressabgeordnete Giffords im US-Bundesstaat Arizona hat die Staatsanwaltschaft Anklage gegen den mutmaßlichen Täter erhoben. Der 22-Jährige, der nach Angaben der Behörden psychisch gestört ist, muss sich wegen Mordes und versuchten Mordes verantworten. Er wird heute erstmals dem Richter vorgeführt. Über sein Motiv wird weiter gerätselt. Er hat sechs Menschen erschossen und 14 verletzt."
Nun habe ich alles Verständnis der Welt dafür, daß es seit vielen, vielen Jahren in den deutschen Medien üblich (oder sogar vorgeschrieben) ist, noch nicht verurteilte Tatverdächtige als "mutmaßliche Täter" anzusprechen. Wenn kein Geständnis vorliegt [1] ist es immer noch möglich, daß sich der mutmaßliche Täter als unschuldig erweist. Oder die Mörderin wird zum Totschläger, der erstmal angenommene Mord erweist sich als fahrlässige Körperverletzung mit Todesfolge.
Hier aber ist der Täter auf frischer Tat festgenommen worden, er wurde noch am Tatort überwältigt, wahrscheinlich gibt es x Photos und Videos vom Tatgeschehen. Es gibt keinerlei Spielraum für irgendwelche Zweifel an der Täterschaft, fraglich ist lediglich die juristische Einstufung.

Warum also die Formulierung vom "mutmaßlichen" Täter, denn Täter ist er in jedem Falle. Abgesehen davon ist der Journalist, der den Anreißer verfaßt hat, inkonsequent, denn am Ende des kurzen Textes bringt er keinen Konjunktiv mehr, keine sonstige vorsichtige Formulierung. Ganz lakonisch heißt es: "Er (der angeblich nur mutmaßliche Täter; W. H.) hat sechs Menschen erschossen und 14 verletzt." Punkt.

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Am 2. August 1980 verübten Neofaschisten einen verheerenden Bombenanschlag auf den Hauptbahnhof von Bologna, bei dem 85 Menschen starben und mehr als 200 verletzt wurden. Im Deutschlandfunk habe ich damals die bizarre Formulierung gehört, in Bologna habe man jetzt einen "mutmaßlichen Verdächtigen" festgenommen. Auf den ersten Blick ist das einer der vielen Weißen Schimmel und anderen Sprachschlampereien, die man immer wieder hört oder liest.

Ich aber wöhne - und das arg - daß es eher ein Beispiel für die rasche Veränderung von Wortbedeutungen ist. Wie fast jedes andere Ding so nutzt sich auch Sprache ab durch Gebrauch. Das wohltuend distanzierte Wort "mutmaßlich" ist so oft im Zusammenhang mit - im Urteil der Öffentlichkeit längst verurteilten - Terroristen aufgetreten daß "mutmaßlich" seine Bedeutung innerhalb weniger Jahre umgedreht hat. In den siebziger und achtziger Jahren war ständig von mutmaßlichen Terroristen die Rede war. So häufig, daß "mutmaßlich" im Zusammenhang von Rechtsprechung die Bedeutung von "ganz besonders schlimm und arschklar erwiesen" bekam. Ein "mutmaßlicher Verdächtiger" ist also jemand, der schon längst und unwiderlegbar überführt ist, was fehlt ist lediglich das formelle Urteil durch ein Gericht.

Der normale Sprachverbraucher weiß ja meist eh nicht, was "mutmaßlich" ist.



[1]   Und selbst dann gibt es gelegentlich Überraschungen.

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