Sonntag, 9. Januar 2022

Ein- und ausgelegte Lesefrüchte

In einem meiner eher seltenen Anfälle von Weisheit schrieb ich einmal (im Internet, wo sonst?) "Das Schöne an Bibel, Koran und Tanach ist ja, daß hier für jeden Willen und jedes Interesse an irgendeiner Stelle der passende Spruch steht. Und sollte sich der gesuchte Spruch dort nicht direkt finden, so findet man ihn mit Sicherheit in einem der Kommentare eines heiligmäßigen Rabbiners, Imam oder Papstes."

Eine ausgesprochen gebildete Dame antwortete mir damals: "Ja, das geht mir auch so mit Goethe, mit Shakespeare etc. Gute Literatur ist wie ein Steinbruch."

Darauf ich: "Der Unterschied ist halt, daß Goethe oder Shakespeare zum einen nur jeweils eine Person sind (bei Shakespeare streitet man sich noch, wer er war und ob es nur eine Person war). Und: Goethe und Shakespeare haben Dramen und Romane (Shakespeare nun wieder weniger) geschrieben. Da steht dann manchmal in ein und demselben Drama ein kluger Satz neben einem ausgesprochen dummen Spruch, nur spricht den klugen Satz ein anderer, der als dumm gekennzeichnet werden soll.

Ich weiß noch, daß unser Religionslehrer mal behauptet hat, in der Bibel stünde "Es gibt keinen Gott". Darüber waren wir nun doch sehr erstaunt und mochten es nicht glauben. Er aber grinste und sagte, es hieße dort (ich zitiere aus dem Gedächtnis): "Die Heiden sagen, es gibt keinen Gott." Ah so.

Was Goethe betrifft, so habe ich viele Jahre lang den Satz aus dem Faust "Zwar weiß ich viel, doch alles möcht' ich wissen" als Kernsatz faustischen Erkenntnisdranges mit mir rumgetragen. Beim ersten Lesen des "Faust" in der Schule ist es mir nicht aufgefallen, erst beim zweiten Lesen als Erwachsener habe ich gemerkt, daß diesen ur-faustischen Spruch Faustens Famulus Wagner spricht, der "trockene Schleicher". Sprich: Goethe macht sich über diesen Spruch lustig.

Und zum Dichter bürgerlicher Freiheit, Friedrich Schiller, fällt mir der Satz ein:

"Wo viel Freiheit, ist viel Irrtum,

Doch sicher ist der schmale Weg der Pflicht."

Nanu? Das hört sich nach Beamtenseele, nach Soldatentugend an. Und richtig spricht den Satz auch Buttler, Chef eines Dragonerregiments, im "Wallenstein".

Die Bibel ist bekanntermaßen eine Zusammenstellung (auf gut Deutsch: Kompilation) unterschiedlichster Autoren und Bearbeiter aus ganz unterschiedlichen Zeiten und so finden sich dort die allerunterschiedlichsten Aussagen, von "Schlagt sie alle tot", spricht der Herr, "schändet die Frauen und nehmt die Kinder zu Sklaven" bis zu "Sads freindlich, jawoi, sads freindlich, hob i gsogt. Mir kannst no a Weißbier bringa".

Wäre die Bibel von Gott inspiriert, so müßte sie eigentlich in sich konsistenter sein. Selbst ich als Atheist weigere mich, mir Gott als einen wirren alten Herrn vorzustellen, der heute dies brabbelt und morgen jenes. Soviel Respekt muß sein. Manchmal frage ich mich, ob nicht Atheisten ein freundlicheres und respektvolleres Gottesbild in sich tragen als die Frommen und ganz die Frommen.

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