Jede vierte Person in Deutschland hat einen Migrationshintergrund las ich jüngst auf Facebook. Diese Behauptung ist nicht wirklich falsch, genaugenommen aber sind es natürlich sehr viel mehr. Kriegsflüchtlinge etwa, die vor 1948 in das Gebiet des heutigen Deutschland gekommen sind, wurden lange Zeit nicht als Zugewanderte eingestuft. Seit 2016 ist das anders. "Die Vertriebenen des Zweiten Weltkrieges und ihre Nachkommen gehören nicht zur Bevölkerung mit Migrationshintergrund, da sie und ihre Eltern mit deutscher Staatsangehörigkeit geboren sind." Das ist eine Lebenslüge, die sudetendeutschen Heimatvertriebenen etwa sind durch die Bank nicht als deutsche Staatsbürger geboren worden. Meine Vorfahren etwa waren zunächst österreichische, dann tschechoslowakische Staatsbürger, so gesehen bin auch ich eine Person mit Migrationshintergrund, ebenso meine Söhne, da auch die Familie meiner Frau komplett aus dem Sudetenland stammt.
Der Begriff "Person mit Migrationshintergrund" wurde in den neunziger Jahren geprägt, um zunehmend als abwertend empfundene Wörter wie "Gastarbeiter", "Ausländer" etc. pp. zu ersetzen. Mit "Ausländer" meint man umgangssprachlich ja nicht Österreicher, Dänen oder Franzosen, sondern Türken, Araber oder Schwarze, also nur jene Ausländer, die aus den hochverdächtigen Ländern kommen. Früher war die hochverdächtige Himmelsrichtung der Süden (das fing schon mit Italien südlich von Rom an), heute ist der Osten dazu gekommen.
Die Nationale Armutskonferenz hat eine Liste sozialer Unwörter erstellt. Darin taucht 2012 auch das Wort "Person mit Migrationshintergrund" auf, in einer Reihe mit "Sozialschmarotzer". Nicht einmal 20 Jahre hat es gedauert, bis aus dem schönen, manierlichen Ersatzwort für "Ausländer" seinerseits ein Unwort geworden ist. Die Euphemismus-Tretmühle war wieder mal wirksam geworden.
Was eine Euphemismus-Tretmühle ist? "Die Euphemismus-Tretmühle (engl. euphemism treadmill) ist eine sprachwissenschaftliche Hypothese. Sie besagt, dass jeder Euphemismus irgendwann die negative Konnotation seines Vorgängerausdrucks annehmen wird, solange sich die tatsächlichen Verhältnisse nicht verändern. Häufig handelt es sich bei den betroffenen Ausdrücken um gesellschaftlich relevante und konnotativ aufgeladene Begriffe. So werden etwa ethnische Minderheiten wiederholt mit neuen Wörtern benannt, um negative Assoziationen zu vermeiden."
Der Begriff der „Euphemismus-Tretmühle“ wurde von Steven Pinker eingeführt. Er beobachtete den Effekt, daß euphemistische Wortneubildungen alle negativen Assoziationen jener Wörter aufnahmen, die sie ersetzten, also eine Bedeutungsverschlechterung erlebten. Nach Pinker zeige die Euphemismus-Tretmühle, dass nicht Wörter wie variable euphemistische Bezeichnungen, sondern Begriffe im Geist des Menschen primär (vorrangig) seien. Deshalb bewirkten diese primären Begriffe die Bedeutungsübertragung auf die sekundären (nachrangigen) Bezeichnungen.
Ich werde es wahrscheinlich nicht mehr erleben, ansonsten würde ich dir eine Wette anbieten: In 15, spätestens 20 Jahren wird "Afro-Deutscher"/"Afro-Amerikaner" etc. pp. auf der Liste der zu vermeidenden Unwörter stehen.
Keine Kommentare:
Kommentar veröffentlichen