Mittwoch, 9. September 2020

Ohrstöpsel und andere Perversitäten

Dieser Rübezahl - heutzutage sagt man wohl Hipster - sieht auf den ersten Blick aus wie ein Narr. Auf den zweiten Blick könnte man sich auch vorstellen, daß es ein Kabarettist oder Ko­miker ist, der sich einen Narren als Kunst­fi­gur geschaffen hat.

In Wirklichkeit [1] handelt es sich um einen Hör­­geräteakustiker. dem ein Idiot eingeredet hat, er selbst sei doch die ideale Reklamefigur für seinen Laden. Womöglich hat der beratende Idiot sogar recht.

Sehen wir den Tatsachen ins Auge: Ohne einen gewissen Geräuschpegel kommt Musik nicht aus. Das mag im Einzelfall bedauerlich sein, aber solange der Musiker die Querflöte bläst, hält sich die Belästigung doch in Grenzen. 

Was aber, wenn Wagner auf dem Programm steht oder gar Rock-Musik? Das ist der Ernstfall für den Hals-Nasen-Ohren-Arzt [2]. Und hier kommt unser debil grinsender Hörgerate-Akustiker ins Spiel.

Was er anpreist, ist ein maßgefertigter Ohr­stöp­sel. Er vermißt deine Ohrenschmalzhöhle und fertigt dann nur für dich ein Ohropax, gegen das Ohropax® nur ein müder Abklatsch ist. Du hörst dann, verspricht dir der biedere Banause [3], die Musik so wundervoll, als würden die Musiker von vorneherein einen (oder mehrere) Tick(s) leiser spielen.

Besser wäre es natürlich wenn du dir die Musik zuhause auf deiner eigenen Anlage anhören würdest. Aber, klar, zuhause findest du keinen zum Ficken, bzw. der, den du daheim vorfindest ist dir inzwischen auch schon wieder ein bisserl fad. Ich mein, wozu geht man denn auf ein Konzert wenn nicht auf der Suche nach einem Aufriß.

Die Band schafft sich eine sauteure Beschallungsanlage an und du mußt dir teure Ohrstöpsel leisten, damit du die Musik so hörst, wie sie geklungen haben würde, wenn die Beschallungsanlage nicht so teuer gewesen wäre. Der perfekt leerlaufende Wertschöpfungskreislauf.

Ich bin mal auf einer Kundgebung mit Rock-Beschallung direkt an einem der Lautsprecher vorbeigegangen. Mir haben nicht die Ohren weh getan, es war der Unterleib, der in äußerst heftige - und so gar nicht angenehme - Schwingungen versetzt wurde und mich schnell das Weite suchen (und gottlob finden) ließ. Kunst ist wie Busfahren nur was für die ganz knallharten Marlboro-Cowboys.

In den siebziger oder achtziger Jahren haben amerikanische Wissenschaftler (wer sonst?) ein grausames Tierexperiment gemacht. Sie haben ein Jahr lang Schweine mit Rockmusik beschallt, so laut und in etwa in der Dauer und Häufigkeit, mit der ganz normale Musikfreunde sich dieser Musik aussetzen. Anschließend wurden die Schweine geschlachtet - die Gehörknöchelchen waren dramatisch geschrumpft.

Als ich noch Student war ich mal zu relativ früher Stunde - so umra 8 Uhr abends - in der Regensburger Studentenkneipe "adabei" [4]. Der frühen Stunde war es geschuldet [5], daß noch kaum Gäste dort waren, die Musik dudelte besinnlich vor sich hin. Das hatte ich anders im Ohr und ich Bayernticket den barista, mir doch vorzuführen, wie weit die Anlage aufgedreht sei, wenn Hochbetrieb sei. "Das zeige ich dir gerne", meinte er und mir wären fast die Ohren geplatzt, so laut war es mit einem Mal. Und richtig, wenn Hochbetrieb war, konnte man sich kaum unterhalten, so laut war die Musik. Die Musik ist leise, der Laden füllt sich allmählich, die Musik wird nahezu unhörbar, also dreht man auf. Es kommen noch mehr Leute, die Musik wird wiederum kaum hörbar und man dreht weiter auf etc. pp. Wenn du dann auf die Glockengasse - eine Sackgasse ohne Autoverkehr - getreten bist, hat dir die nächtliche Stille in den Ohren gedröhnt.

Als ich einst im Internet von meinen Erfahrungen berichtete, meinte einer, er habe "eigentlich eher das Gefühl, die Konzerte werden wieder leiser." Ich vermutete - und sagte ihm dies - es seien nicht die Konzerte leiser, sondern seine Ohren schlechter geworden. Ein anderer empfahl fast dasselbe wie unser Hörgeräteakustiker: "Immer Watte oder Einwegtaschentücher zum Konzert mitnehmen, bei zu großer Lautstärke eine kleine, lockere Kugel daraus formen und in die Ohren stopfen. Damit kann man sehr gut die Lautstärke einstellen. Je nach Lockerheit der Kugel ist auch der Sound regulierbar." Ich empfahl, gar nicht erst hinzugehen. Ich mein, unsere Altvorderen sind seinerzeit zwangsweise zum Konzert der Stalinorgeln geladen worden, wir dagegen müssen nicht mehr hin.

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[1]   Erfahrungsgemäß ist die Wirklichkeit oftmals deutlich krasser als das Kabarett.

[2]   Auf Italienisch ist das ein otorinolaringoiatra m/f. Das Wort alleine ist schon Musik.

[3]   Banause war im Alten Griechenland ein Kunsthandwerker (Keramiker). Das Wort Banause, βάναυσος kommt von baunos, βαῦνος, „Ofen“, ursprünglich „der am Ofen Arbeitende“. Das allgemeine Wort für Handwerker war übrigens Chirurg, χειρουργός, cheirourgós.

[4]   "adabei" ist kein hebräisches Wort. Eine der Umschreibungen für JHWH, Gottes Eigennamen im Tanach, ist vielmehr "adonai". Adabei ist vielmehr bairisch/wienerisch und meint "auch dabei". Ein Adabei ist eine völlig überflüssige Person, die überall dabei ist, ohne wirklich dazuzugehören.

[5]   "Dies ist dem Umstande geschuldet..." - eine der Lieblingsformulierungen von Seminarmarxisten in den Siebziger Jahren. Irgendwo. "Irgendwo" war ein Vermeidungswort für das spießbürgerliche "irgendwie"... "Irgendwie meine ich das ganz konkret."

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