Samstag, 24. Januar 2009

Einfühlung

Journalisten... also Reporter... also solche Journalisten, die nicht nur Agenturmeldungen redigieren oder kommentieren, machen gerne mal verdeckte Recherchen. Sie mieten sich zum Beispiel eine Billigwohnung und leben dann ein oder zwei Monate lang von Hartz IV oder - drastischer noch - sie verkleiden sich als Penner und verbringen dann ein oder zwei Monate als Obdachloser auf der Straße. Hautnah erleben sie die Entbehrungen, Gefahren und Demütigungen eines Pennerlebens auf eine sehr authentische Weise am eigenen Leibe und schreiben dann eine informative und sehr bewegende Reportage über das Erlebte. Sie wissen nun aus eigener Erfahrung, was es heißt, arm zu sein, was es heißt, am Rande der Gesellschaft zu leben.
Sie wissen es und sie wissen es nicht.

Sie teilen eine bestimmte Zeit lang alle jene konkrete Erfahrungen, die ein Penner macht, mit den Obdachlosen, mit denen sie zusammenleben. Sie frieren des Nachts, wenn sie, unzureichend geschützt, unter Brücken schlafen, sie müssen zusammen mit den anderen um Nahrung anstehen bei irgendwelchen Armenspeisungen, sie haben keine oder nur unzureichende Möglichkeiten für Körperpflege, sie werden wie die anderen von normalen Bürgern verächtlich angeschaut, beschimpft, verjagt, sie landen vielleicht auch mal in der Arrestzelle der Polizei.
Sie leben tatsächlich das bittere, so gar nicht romantische Leben eines Obdachlosen. Und sie tun es nicht.

Was sie von den anderen Obdachlosen unterscheidet, die genauso frieren wie sie, die genauso hungrig bei der Caritas anstehen, die genauso schief angesehen werden wie sie selber, das ist der Umstand, daß sie
• wissen, daß dieser Zustand ein Zustand auf Zeit ist und
• daß sie diesen Zustand jeder auch vorzeitig wieder beenden können.
Ein extrem kalter Wintertag, an dem er zu erfrieren droht und er kehrt in seine Wohnung zurück, um sich aufzuwärmen. Was der Journalist mit den Obdachlosen teilen kann, das sind eine Menge authentischer Erfahrungen über deren Leben. Was er aber nicht simulieren kann (eben, weil es eine Simulation ist), das ist die Existenzangst, die mit einem solchen Leben verbunden ist, das Gefühl der Ausweglosigkeit.

Das erste Mal über so etwas nachgedacht habe ich noch als Kind, anläßlich der entsetzlichen Leiden Christi am Kreuz, die mich (natürlich) sehr beeindruckt haben. Dann aber dachte ich: Wenn Christus wirklich Gott selber ist, wenn er vom Himmel kommt und dies weiß; wenn er also nicht, wie wir, an Gott und das Jenseits glauben muß, sondern aus eigener Erfahrung weiß, daß es dieses Jenseits wirklich gibt... dann, ja dann leidet er wie ein Mensch und tut es doch nicht.
Dann kann er nämlich quasi aus sich raustreten und seine Situation von außen betrachten. Er leidet als Mensch und steht doch als Gott über dem Leid. So dachte ich damals.

Auf den Gedanken, daß mit der ganzen Geschichte mit Christus und Gott etwas nicht stimmen könnte, bin ich allerdings erst deutlich später gekommen.

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