Montag, 11. April 2022

Die Marktlücken im Sinnhandel

Überlieferungen sind umso zuverlässiger, je größer der Abstand zwischen damals und heute ist. Wenn ich heute nach einem Aufstieg auf den Brotjacklriegl in die Stadt zurückkomme, zwei Blätter Computerausdrücke unterm Arm, und verkünde, ich sei dort oben GOtt begegnet, der mir zehn Gebote geoffenbart habe, auf daß ich sie Jedermann verkünde, dann riskiere ich damit die Einweisung in die Psychiatrie.

Dabei ist meine Geschichte sehr gut dokumentiert, x Kameras haben mich gefilmt, wie ich vom Berg zurückkomme, man kann das Papier und die Schrift darauf analysieren, ich stehe für Interviews und Talkshows zur Verfügung, in denen mich jeder befragen und meine Darlegungen auf innere und äußere Glaubwürdigkeit abklopfen könnte.

Je älter eine solche Geschichte dagegen ist, je weniger gut sie dokumentiert ist, desto glaubwürdiger wird sie. Nimm die uralte Geschichte von Moses und dem Sinai, die uns überliefert ist von einem, der einen gekannt, welcher der Schwager eines guten Bekannten war, der wiederum der Ur-ur-ur-ur-Enkel von Moses gewesen sein soll... Sie wird ernst genommen als enthielte sie... äh,... Gottes Wort.

Und je öfter schon irgendwelche Leute an dieser alten Geschichte herum geändert haben für desto authentischer gilt sie. Man deutelt frohgemut an jedem Buchstaben des Textes, der, wie gesagt, bekanntermaßen x-mal redigiert worden ist. Theologie ist über weite Strecken eine Gerüchtologie.

Es gibt nichts Leichtgläubigeres als einen klugen Menschen, der glauben will, weil er sich dann besser fühlt. Der Mensch muß sich die Welt erklären, anders erträgt er sie nicht, anders kann er nicht in ihr leben. Jede Theorie - buchstäblich und wortwörtlich: jede - ist besser als keine Theorie. Religionsstifter und Philosophen haben das erkannt und die Marktlücke mit Sinn gefüllt. Mit irgendeinem Sinn.

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