Es gibt Leute, die den Beginn des Menschseins an dem Punkt
ansetzen, wo der Mensch begonnen hat, über die sinnlich wahrnehmbare Realität
hinauszudenken und magische Zusammenhänge in die Welt hineinzudenken.
Im Großen und Ganzen ist das wahrscheinlich gar kein
schlechter Ansatz dachte ich jahrzehntelang, bis ich von dem
austro-amerikanischen Psychologen Paul Watzlawick [Villach (Kärnten)/Palo Alto
(Kalifornien)] in die Psychologie des Ratzens (rattus) eingeführt
wurde.
Aberglauben gilt
allgemein als eine typisch menschliche Schwäche oder als magischer Versuch,
Einfluß über die kapriziöse Unberechenbarkeit der Welt und des Lebens zu
gewinnen. Merkwürdigerweise aber kann Aberglauben auch in einem so
unphilosophischen Lebewesen wie der Laborratte (...) experimentell
herbeigeführt werden. Die Versuchsanordnung ist sehr einfach. Die Ratte wird
von ihrem Käfig in einen etwa drei Meter langen und einen halben Meter breiten
Raum gelassen, an dessen anderem Ende ein Futternapf steht. Zehn Sekunden nach
Öffnen des Käfigs fällt Futter in den Napf, vorausgesetzt, daß die Ratte erst
zehn Sekunden nach Öffnen des Käfigs zum
Napf kommt. Kommt sie in weniger als zehn Sekunden dort an, so bleibt der Napf
leer. Nach einigem blinden Ausprobieren (dem sogenannten Versuchs- und Irrtumsverfahren)
erfaßt die für praktische Sinnzusammenhänge sehr aufgeschlossene Ratte die
offensichtliche Beziehung zwischen dem Erscheinen (beziehungsweise
Nichterscheinen) von Futter und dem damit verbundenen Zeitelement. Und da sie
normalerweise nur etwa zwei Sekunden für das Zurücklegen der Entfernung
zwischen ihrer Käfigtür und dem Futternapf brauchen würde, muß sie die
restlichen acht Sekunden in einer Weise vergehen lassen, die ihrem natürlichen
Impuls, direkt zum Futter zu laufen, widerspricht. Unter diesen Umständen
gewinnen diese Sekunden für sie eine pseudokausale Bedeutung. Und was
pseudokausal in diesem Zusammenhang bedeutet, ist, daß jedes - auch das
zufälligste - Verhalten der Ratte in
diesen Extrasekunden selbstbestätigend und selbstbestärkend und damit zu jener
Handlung werden kann, von der sie »annimmt«, sie sei notwendig, um dafür durch
das Auftauchen von Futter von weiß Gott woher belohnt zu werden – und dies ist das Wesen dessen, was wir im
menschlichen Bereich einen Aberglauben nennen.
Es versteht sich von
selbst, daß dieses Zufallsverhalten für jedes Tier verschiedene und höchst
kapriziöse Formen annehmen kann; zum Beispiel eine Art Echternacher Sprungprozession
auf den Napf zu oder eine bestimmte Zahl von Pirouetten nach rechts oder links
oder irgendwelche andere Bewegungen, die die Ratte zuerst eben rein zufällig
ausführte, nun aber sorgfältig wiederholt, da für sie ihr Erfolg mit dem Futter
ausschließlich davon abhängt. Denn jedesmal, wenn sie beim Ankommen am Napf
Fressen vorfindet, bestärkt dies die »Annahme«, es sei durch ihr »richtiges«
Verhalten erzeugt worden. Es ließe sich
natürlich einwenden, daß mit dieser Erklärung der Ratte eine Art menschlicher
Weltanschauung zugeschrieben wird und daß dies reine Phantasie ist. Es läßt
sich aber die frappierende Ähnlichkeit mit gewissen menschlichen
Zwangshandlungen nicht übersehen, die auf dem Aberglauben beruhen, sie seien
zur Beschwichtigung oder Günstigstimmung einer höheren Macht notwendig.
(Paul Watzlawick: "Wie wirklich ist die
Wirklichkeit")
Der Begriff "Aberglaube"
Eine Anmerkung sei gestattet: Paul Watzlawick verwendet hier
das Wort "Aberglaube" als
Erklärung für das magische Verhalten der Laborratte. Damit bleibt er in einem
Wortgebrauch, den auch ich oft pflege. Allerdings ist mir bei meinen
gelegentlichen Anfällen philosophischen Denkens der Begriff
"Aberglaube" etwas suspekt, ich mag ihn nicht sonderlich. Was
nämlich, so frage ich mich, ist der Unterschied zwischen Aberglaube und Glaube,
wo habe ich die Grenze zu ziehen?
Sowohl Glaube als auch Aberglaube halten Sachverhalte für
existierend, die in der sinnlich wahrnehmbaren Welt nicht auffindbar sind,
beide pflegen Praktiken, welche die Existenz einer metaphysischen Welt voraussetzen.
Auffallend ist dabei, daß abergläubisch stets die anderen sind, während ich
selber mich als gläubig bezeichne. Die Trennung zwischen Glaube und Aberglaube
ist anscheinend künstlich, Aberglaube ist ein Kampfbegriff in der Diskussion.
"Die Furcht vor
denjenigen unsichtbaren Mächten, welche der Staat anerkennt, ist Religion, die
Furcht vor solchen, welche er nicht anerkennt, Aberglaube", heißt es
in einem "Philosophischen Wörterbuch". ([1])
[1] Ich finde die Quelle nicht mehr, das heißt
genauer gesagt, der Mensch, der mir den Satz zitiert hat, hat damals nicht
angegeben, welches Wörterbuch er meint. Womöglich hat er sich den Satz selbst
ausgedacht, wodurch dieser natürlich nicht weniger wahr wird.
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