Montag, 20. Februar 2012

Traffico a Napoli

Wer in Deutschland den Führerschein gemacht und hier seine Fahrpraxis erworben hat, der ist daran gewöhnt, Verkehrsregeln sehr wörtlich zu nehmen. Kommt er nachts um drei Uhr an die rote Ampel einer sehr übersichtlichen Kreuzung, an welcher er weit und breit der einzige Verkehrsteilnehmer ist, so wird er anhalten und warten, bis die Ampel grün zeigt.
Er tut gut daran, denn sollte ein im Unterholz versteckter Polizist beobachten, wie er bei rot über die Ampel fährt, dann wird er eine Anzeige bekommen.
Vorschriften sind in Deutschland auch dann zu beachten, wenn sie in der jeweiligen Situation sinnlos oder gar widersinnig sind.
Fährt ein Deutscher nach Italien, so fängt er spätestens in der Toskana an, sich zu wundern. Die Verwunderung wird in Rom zur Ängstlichkeit, und im Großraum Neapel bricht blanke Panik aus.

Vorfahrt

Meine erste nachhaltige persönliche Erfahrung mit dem italienischen Autoverkehr machte ich Anfang der neunziger Jahre in Livorno, also noch relativ weit im Norden.
Stoßzeit, Kreisverkehr, ich steh da und komm nicht rein in den Kreis, die Schlange der Autos reißt und reißt nicht ab. Hinter mir hupen die anderen Autos - viele Autos! - bereits ungeduldig. Was soll ich tun? Ich kann doch nicht einfach in den Kreisverkehr einfahren und damit den anderen einfach die Vorfahrt nehmen!
Ein dabeistehender Polizist, der den Verkehr weniger regelt als vielmehr beobachtet, winkt mir zu, erst glaub ich's nicht, dann wird es unmißverständlich: Der Polizist winkt mir - und zwar energisch - zu, ich solle mich doch gefälligst in den an mir vorbeifließenden Verkehr hineindrücken. Ein Trick, um mir dann wegen Übertretung der Straßenverkehrsordnung ein Bußgeld abzunehmen?
Der Polizist wird immer ungeduldiger, ich fahre also raus, langsam, vorsichtig, aber doch entschieden - und man läßt mich rein, die Autos werden langsamer, lassen eine Lücke und ich bin drin. Niemand hupt wütend, weil ich ihm die Vorfahrt genommen hätte.
Und dann, einige Jahre später, nach Training in Sardinien, den Abruzzen und Apulien, der absolute Ernstfall: Kampanien.
Eine Nebenstraße, Autobahnzubringer und entsprechend gut befahren, kreuzt eine vorfahrtsberechtigte und ebenfalls gut befahrene Staatsstraße (entspricht der deutschen Bundesstraße). Also steh ich und warte. Und warte. Und hinter mir hupen die Leute und ich trau mich nicht und gerate durch das Gehupe immer mehr unter Druck und trau mich schließlich doch.
Langsam, vorsichtig, aber kontinuierlich. Und: Draußen bin ich, denn die von der Querstraße herkommenden Autofahrer werden langsamer und verschaffen mir die Lücke, die ich zum Rausfahren brauche. So geht es, ohne Ampel und trotz erheblichen Verkehrs, der aus allen vier Richtungen auf die Kreuzung zufährt.
Die Rechts-vor-Links-Regelung schafft Ordnung, sie funktioniert wunderbar bei mäßigem, normalem und etwas dichterem Verkehr. Wehe aber, der Verkehr wird wirklich dicht, aus allen und nach allen Richtungen. Eine Rechts-vor-Links-Kreuzung wird dann ohne regelnde Polizei fast nicht mehr befahrbar. Der Stau ist vorprogrammiert. In Deutschland.
In Italien habe ich beobachtet, daß an einer abknickenden Vorfahrtsstraße, an der fast immer sehr viel Verkehr ist, die Autos sich jeweils ganz locker eingefädelt haben und jeder den anderen auch widerstandslos hat einfädeln lassen. Und das ohne Hinweisschild "Einfädeln lassen". Kurz zuvor hatte ich eine ganz ähnliche Situation in Deutschland erlebt und ich mußte ewig lange warten, bis ich endlich die Chance hatte, auf die Vorfahrtsstraße einzubiegen. Keiner hat mich freiwillig reingelassen. Und wehe, ich hätte mich langsam reingedrückt!!!
In Regenstauf hat mich - der ich gerade aus dem Italienurlaub zurückkam und noch etwas italienisch fuhr - ein Autofahrer, wütend schimpfend und hupend, durch den ganzen Ort verfolgt, als ich mich, ganz sanft, vor ihm reingedrückt hatte.

Chaos

In den späten Neunzigern waren wir mit der Klasse meines Sohnes auf einer Busreise zu den antiken Ausgrabungsstätten bei Neapel. Ein Großteil der Mitreisenden war noch nie soweit in den Süden des Stiefels vorgedrungen, für sie war diese Reise eine erstaunliche Erfahrung. Begeistert von der großartigen und fruchtbaren Landschaft dort waren alle, einer sagte, er habe bisher immer gedacht, in Süditalien sei alles flach und sandig, ein Ausläufer der Sahara.
Was das bunte und lebhafte Treiben in den Straßen Neapels betrifft, so lag die Stimmungslage irgendwie zwischen überheblichem Amüsement und unverhohlener Faszination. Der neapolitanische Straßenverkehr aber hat sie - obwohl sie schon eine Menge Vor-Urteile mitbrachten - überwältigt und entsetzt. Sie waren sichtlich froh, hinter den sicheren Scheiben des Busses zu sitzen und fürs Fahren nicht selber verantwortlich zu sein. Dieses heillose Chaos aber auch, jeder macht, was er mag, dieser helle Wahnsinn! Null Ordnung.
Einer der anderen Eltern, die mitgereist waren, war von Beruf Techniker, technischer Prüfbeamter, um genau zu sein, und als solcher gewohnt, komplexe Abläufe zu beobachten, zu beschreiben und schließlich zu bewerten.
Irgendwann sprach er mich an, da er wußte, daß wir schon dreimal in der Gegend (die kurz drauf für 10 Jahre zur Heimat wurde) auf Urlaub waren. Zum anderen wußte er auch, daß ich Verkehrspsychologe bin.
Er beobachte den Straßenverkehr hier jetzt seit einigen  Tagen und habe große Schwierigkeiten, das Gesehene zu verstehen. Was er da draußen sehe, sei das pure Chaos, der nackte Wahnsinn, das totale Durcheinander. Keiner halte sich an irgendwelche Verkehrsregeln, die ja hier in Italien nicht anders seien als in Deutschland, jeder scheine das zu tun, was ihm momentan gerade am passendsten erscheine. Was er aber auch beobachte, sei der absolut irritierende Umstand, daß dieses Tohuwabohu offensichtlich funktioniere. Jeder komme am anderen irgendwie vorbei, es krache nicht ständig, wie man dies als deutscher Verkehrsteilnehmer bei diesen Zuständen vermuten würde, er höre die Notfallsirene keinesfalls häufiger als in einer deutschen Großstadt, man hupe hier zwar viel, aber es sei ein informierendes Hupen, nicht das aggressive Hupen von Leuten, die von anderen um ihr Vorfahrtsrecht gebracht wurden.
Das ist der Punkt! Man kommt als außenstehender oder teilnehmender Beobachter des (süd)-italienischen Straßenverkehrs nicht um die Erkenntnis herum, daß dieses Chaos wider jede (deutsche) Erfahrung zu funktionieren scheint, was durch die italienische Unfallrate belegt wird. [1]
Wenn aber das neapolitanische Verkehrschaos funktioniert, dann kann es kein Chaos sein. Chaos, das liegt in der Definition des Wortes kann nämlich nicht "funktionieren", da jedes Funktionieren von irgendetwas strenge Regeln und deren Beachtung voraussetzt, Chaos aber nahezu regellos abläuft.
Es ist mit dem Straßenverkehr wie mit einer fremden Sprache. Wer sie nicht beherrscht, für den ist sie nichts als sinnloses Gebrabbel. Wer die Sprache des neapolitanischen Straßenverkehrs nicht versteht, sieht nichts als regelloses Chaos.
Keiner kann sich darauf verlassen, daß der andere Verkehrsteilnehmer sich leidlich berechenbar verhält, es ist also jederzeit fast alles möglich. Das erzwingt erheblich niedrigere Geschwindigkeiten als in einer deutschen Stadt, das erzwingt Blickkontakt, jeder Verkehrsteilnehmer ist gezwungen, für den anderen mitzudenken.
Der neapolitanische Straßenverkehr erzwingt Disziplin.
Neapel und Disziplin?

Disziplin

Je rauher und stürmischer das Meer, desto höher und haltbarer müssen die Deiche sein. Der Unterschied zwischen Mittelmeer und Nordsee wird jedem sofort klar, wenn er die massiven Deichanlagen Frieslands mit der Mittelmeerküste vergleicht, wo die Kirche oft nur wenige Meter Sandstrand von der Wasserlinie entfernt steht.
Je wilder und anarchischer ein Volk, desto ver-regelter müssen seine Gesetze sein, desto strenger muß man auf die Einhaltung dieser Gesetze achten.
Nun gelten einerseits die Deutschen als das disziplinierteste und gesetzestreueste Volk Europas, andererseits ist das Zusammenleben in Deutschland so streng verrechtlicht wie nirgendwo sonst.
Ein Widerspruch?
Nein, denn Disziplin ist etwas völlig anderes als Gehorsam. Disziplin ist die freiwillige Unterordnung unter ein als sinnvoll erkanntes Prinzip oder Gesetz.
Spontan sich bildende Schlangen an einer Bushaltestelle, wie sie in England selbstverständlich sind, konsequent rechts auf der Rolltreppe stehende Menschen, damit die etwas eiligeren links ausreichend Platz haben, sind in Deutschland allenfalls dann möglich, wenn ein entsprechendes Schild dies verlangt.
Ein Italiener muß disziplinierter und selbstverantwortlicher sein als ein Deutscher, denn die italienischen Institutionen sind deutlich unzuverlässiger als in Deutschland. Oder sind in Italien die Institutionen nachlässiger, weil sie es sich bei ihrer disziplinierten Bevölkerung leisten können?
In gleicher Weise sind auch die Regeln im Straßenverkehr theoretisch zwar vorhanden, werden in der Praxis aber eher als unverbindliche Empfehlungen gehandhabt.
Deutschland dagegen ist ein anarchisches Volk, Disziplin ist nur dort anzutreffen, wo ein Sheriff an der Ecke steht und kontrolliert.

Ich weiß von einem Autofahrer aus Kampanien, der in Deutschland nach 50 oder 100 km von der Autobahn heruntergefahren ist, weil er mit den Nerven völlig am Ende war. Die deutsche Autobahn hat ihn kleingekriegt. Ich kann ihn verstehen, ich habe mich auf süditalienischen Straßen auch sicherer gefühlt als auf deutschen.




[1]   Die höhere Zahl von Verletzten und Verkehrstoten liegt daran, daß man in Italien mit Sicherheitsgurt und Helm nicht viel anzufangen weiß. Kleine Kinder stehen auf der Vespa vor dem Fahrer, im Auto sind sie prinzipiell nicht angeschnallt, oft stehen sie vorne vor dem Beifahrersitz, einmal habe ich sogar beobachtet, daß der steuernde Vater ein Kleinkind zwischen sich und dem Lenkrad auf dem Schoß hatte.

Darennt

Wer in den fünfziger, sechziger Jahren mit einem Eingeborenen durch das südliche Niederbayern fuhr, wurde hart mit der Vergänglichkeit des Menschen konfrontiert. An jeder dritten scharfen Kurve - deren es viele gab, vor Erfin­dung der Geraden - deutete der Einheimische auf ein Gedenkkreuz am Straßenrand und sagte: "Do hot se vor finf Joan oana darennt!" (Da hat sich vor fünf Jahren einer derrannt.) Oder vor drei oder zehn Jahren oder neulich erst, wenn lediglich Blumen den Platz für das künftige Gedenkkreuz markierten. Und ab und zu, an einer besonders engen Kurve, hat dein Fremdenführer mit ratlo­ser Geste gemeint: "Des wundat me eingdle, daß se do no koana da­rennt hot." (Es wundert mich eigentlich, daß sich hier noch keiner derrannt hat.)


"Se darenna" oder auf deutsch: "am Steuer eines Kraftfahrzeuges durch übermäßige Geschwindigkeit ums Leben kommen" war für den motorisierten Landbewohner ein Schicksal, mit dem er immer zu rech­nen hatte, obwohl damals Autos noch erheblich seltener waren als heute.
Das lag zum Teil sicher daran, daß seinerzeit weder Sicherheitsgurt, noch ABS und Airbag erfunden waren, wohl aber bereits das Bier.
Einen weiteren Grund für die vielen tödlichen Verkehrsunfälle jener Zeit sehe ich darin, daß damals Autos wesentlich seltener waren als heute und der Niederbayer an sich zu einer weniger optischen als vielmehr statistischen Fahrweise neigt.
Der etwas dunkle Sinn dieser Bemerkung erschließt sich besser, wenn wir uns die seinerzeit ebenfalls recht häufigen Verkehrsunfälle an Bahnübergängen ansehen.
Bahnübergänge waren im Rottal - und sind es noch - weitgehend schienengleich und unbeschrankt. Bei kleineren Straßen war so gut wie nie ein Warnblinklicht vorhanden, das weiß-rote Kreuz mußte es tun.
Kein Wunder also, möchte man denken, daß an diesen Bahnübergängen in schöner Regelmäßigkeit Autos vom Zug erfaßt wurden. Das Wundern beginnt, wenn man sich einen solchen Bahnübergang bei Ta­geslicht und Sonnenschein besieht. Die Eisenbahn macht im Rottal relativ wenige Kurven und diese wenigen sind langgezogen und daher übersichtlich. Es kommt hinzu, daß der Zug vor jedem Übergang ein Pfeifsignal gibt. Nachts sind die Lichter des herannahenden Zuges weit zu sehen, in der ländlichen Gegend ist es dann so ruhig, daß er von weitem schon zu hören ist.
Und doch sind die Unfälle passiert.
Bemerkenswerterweise waren es fast immer Einheimische, die verunglückten, Leute aus der unmittelba­ren Umgebung des Unfallortes. Die beste Theo­rie, die mir zur Erklärung dieser erstaunlichen Tatsache einfällt, ist der Um­stand, daß der Rottaler zum einen auf den richtigen Gang seiner Uhr Wert legt, zum anderen großes Vertrauen hat in die Ordnung der Welt im Allgemeinen und der Bahn im Besonderen.
Auch wenn der Fahrplan der Bahn zweimal im Jahr geändert wurde, blieben die Zugverbindungen im Rottal über die Jahre hinweg gleich. Es kam hinzu, daß sich der Zugverkehr doch eher in Grenzen hielt, so daß der Rottaler den für ihn wichtigen Fahrplanausschnitt ziemlich gut im Kopf haben konnte - und hatte.
Wenn der Rottaler Bauer am späten Nachmittag auf seinem Feld arbeitete und den sich nahenden Zug hörte, so wußte er, daß es jetzt acht Minu­ten nach fünf sein mußte, weil dies nur der Fünf-Uhr-Zug aus München sein konnte. Und wenn er umgekehrt um 16:15 h an den Bahnübergang kam, wußte er, daß er nicht auf einen eventuell sich nahenden Zug achten mußte. Der Dreiviertelvier-Zug aus Passau war längst durch und der Fünf-Uhr-Zug aus München noch lange nicht fällig. Da demnach logischerweise gar kein Zug kommen konnte, achtete der ortsansässige Autofahrer um diese Zeit nicht auf einen Zug, der - wie gesagt - gar nicht kommen konnte.
Wenn aber...
Wenn zum Beispiel der Dreiviertelvier-Zug aus Passau eine halbe Stunde Ver­spätung hatte und an einem Bahnübergang auf einen jener Einheimischen traf, die Uhr und Gedächtnis mehr vertrauten als Augen und Ohren - dann waren die Grenzen der statistischen Fahrweise erreicht.
Diese Art, an die Sachverhalte des Lebens heranzugehen, mag auch manche der damaligen Unfälle auf der Straße erklären: Die wenigen Menschen, die über ein Automobil verfügten, schnitten unübersichtliche Kurven, weil Erfahrung sie gelehrt hatte, daß an diesem Ort und zu dieser Stunde ein entgegenkommendes Fahrzeug ausgesprochen unwahrscheinlich sei. Oder sie wußten aus eigener Anschauung, daß trotz hoher Geschwindigkeiten aus dieser Kurve noch nie einer rausgeflogen war. So kann man auch die Gedenksteine (oder Marterln) als eine Art Verkehrszeichen verstehen - in dem Sinn nämlich, daß sie dem Kundigen anzeigen: Hier ist schon mal jemand aus der Kurve geflogen, geh ein Stück vom Gas runter.
Sie mögen lachen und an soviel Seinszuversicht nicht glauben wollen. Ein Bekannter, drauf aufmerksam gemacht, daß er beim Linksabbiegen in sein Grundstück am Stadtrand nie blin­ken würde, gab zur Antwort, das Blinken sei in diesem speziellen Falle nicht nö­tig, da ohnehin jeder wisse, daß er hier immer in sein Grundstück abbiege.

Montag, 6. Februar 2012

Jiu-Jitsu auf die Pädagogik gewendet

Als Mensch bleibt dir (fast) nichts erspart. Hast du Kinder, dann mußt du erleben, daß sie eines Tages vor dich hintreten und in deiner Gegenwart schmutzige, gar unflätigste Wörter verwenden. Das ist so normal wie der tägliche Aufgang der Sonne. Die Fratzen wollen austesten, wie du drauf reagierst. Die meisten Eltern - habe ich mir sagen lassen - die mit Wörtern wie "Arsch" und "ficken" aus dem Mund ihrer Lendenfrüchte konfrontiert werden, reagieren darauf mit dem gleichermaßen ungehaltenen wie strikten Verbot, dergleichen schmutzige Wörter zu verwenden, wohl wissend, daß ein solches Verbot schon in ihrer eigenen Kindheit nicht funktioniert hat [1].
Als meine Söhne mich seinerzeit (als Mensch bleibt dir, wie gesagt, fast nichts erspart) mit Wörtern wie "Arsch" und "ficken" etc. konfrontiert haben, habe ich auf einen Schelmen anderthalbe gesetzt. Meiner erzieherischen Verantwortung wohlbewußt antwortete ich, locker parlierend, mit Wörtern wie "Arschficken". Ich sprach über grobe Sachverhalte mit den denkbar möglichen groben Wörtern und meine Söhne wanden sich vor Verlegenheit, ihren eigenen Vater derart grob sprechen zu hören. Ich habe mit meinen beiden Söhnen natürlich nicht in der Sprache eines Zuhälters über Weiber und Kerle, und was die manchmal so miteinander treiben, gesprochen. Ich habe vielmehr über Gossensprache und ihre Verwendung geredet und dabei bewußt grobe bis sehr grobe Formulierungen verwendet.
Mein hinterfotziges pädagogisches Konzept ging auf. Von Stund an hörte ich keine groben Wörter mehr von ihnen, es wäre denn in Anführungszeichen, wenn wir nämlich über grobe Wortwahl sprachen. Wie sie unter Gleichaltrigen sprachen weiß ich nicht, ich war nicht dabei. Und wäre ich dabei gewesen, so hätte ich sie nicht verstanden. Meine Kenntnis des Gossen-Italienisch ist begrenzt, vom Cilentano (dem regionalen, dem Neapolitanischen verwandten Dialekt) ganz zu schweigen. Ich weiß nur noch, daß ich sie mehrmals (aus rein wissenschaftlichem Interesse, versteht sich) gebeten hatte, mich die gängigsten (süd-)italienischen Wörter aus der Gossensprache zu lehren. Sie haben sich, schamrot, geweigert, dies zu tun. (Sie kannten sie also, das Mindeste, was man von aufgeweckten Jugendlichen erwarten darf.)
Inzwischen sind sie längst erwachsen und können sich in zwei Sprachen, dazu zwei Dialekten (bairisch und cilentano) von einer Stilebene (Analkoitus) locker in die andere (Arschficken) wechselnd, verständlich machen.

Ach so, ja, falls einer die Überschrift nicht versteht:
Jiu-Jitsu ist eine japanische Technik der Selbstverteidigung. Der Grundgedanke ist, dem kraftvollen Schlag des Angreifers nicht die eigene abwehrende Kraft entgegenzusetzen, sondern die Kraft des Gegners so umzulenken, daß sie sich gegen den Angreifer wendet.


[1]   Es ist eines der faszinierendsten Sachverhalte menschlicher Psychologie: Seit Jahrtausenden konfrontieren Eltern ihre Kinder mit Ge- und Verboten, welche diese Eltern im entsprechenden Alter selbst mißachtet haben. Den Menschen als intelligentes Lebewesen zu bezeichnen, erscheint unter diesen Umständen als doch eher gewagt.

Mittwoch, 1. Februar 2012

Lebt Loriot noch?

Heute wollte ich in der ARD-Mediathek ein bißchen in die gestrige Diskussion bei Sandra Maischberger über - wieder mal - Wulff reinhören. Um es kurz zu machen: Es wurde nichts draus, ich bin bereits bei der Vorstellung der Diskussions-Teilnehmer hängengeblieben und schreibe jetzt diesen Beitrag, statt mir die Sendung reinzupfeifen.
Die drei Mädels in der Runde - Lilo Fischer, Lea Rosh und die Maischberger herself - waren optisch soweit unauffällig, sieht man mal von den doch sehr tubenroten Haaren von Frau Fischer ab. Aber die drei Herren im Studio...

Da war zum einen Dieter Wedel, der Regisseur. Mit wirrem Haar, unrasiert und verkatert dreinblickend sah er aus, als hätte man ihn eben grade aus der Mülltonne gezogen und ins Studio getragen. Ich bin nun selber keiner, der auf tadelloses Aussehen sonderlichen Wert legt, ich erwarte das auch nicht von anderen. Morgens, oft auch zu anderen Tageszeiten, sehe ich in etwa so aus wie Dieter Wedel. Aber, wahrlich, wahrlich ich sage euch: Wenn ich eines Tages aus wirren Träumen erwachte, mich in einem Fernsehstudio wiederfände und mich selbst auf dem Monitor sähe, so würde ich als erstes, ganz spontan, in mein Haupthaar langen und es glätten. Daß es zum Rasieren zu spät ist, würde ich seufzend akzeptieren.


Als nächster kam Prof. Arnulf Baring, der Historiker, ins Bild. Er, der sonst in Diskussionen wirkt, als habe er eine Überdosis Speed eingeworfen, saß da, die Augen geschlossen, ab und an mit dem Kopf nickend, wie ein mit sich und der Welt zufriedener Narr. Einen Moment lang hatte ich den Eindruck, er würde noch während der Sendung, wahrscheinlich in den nächsten Minuten, sanft und für immer entschlummern.
Damit hätte es nun des Grotesken genug sein können. Manchmal aber ist das Echte & Wahre Leben unersättlich.


Als nächster nämlich wurde der SPD-Abgeordnete Karl Lauterbach vorgestellt. Stocksteif saß er da, mit aufgerissenen Augen, die einige Sekunden lang nicht einmal blinzelten. Nur der Kopf wackelte leicht; vor - zurück - vor - zurück. Dazu die Fliege, das sichere Zeichen, daß wir im Reich von Satire und Humor sind (1).
Diese Sendung ist nicht echt! Sie kann nie & nimmer echt sein, dachte ich, wider jede Evidenz. Das ist lupenreiner Loriot, so grotesk ist die Wirklichkeit nicht, nicht in dieser dichten Aufeinanderfolge.
Dabei sollte ich es wirklich besser wissen, inzwischen.

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1 Ich schwöre, daß ich die Screenshots nicht heimtückisch ausgewählt habe, ich habe nicht jeweils das Standbild genommen, auf dem die drei Männer am skurrilsten ausgesehen haben, die saßen wirklich sekundenlang so da. Wer es nicht glaubt, kann sich hier die Sendung selber ansehen.


Samstag, 14. Januar 2012

Den Kopf hoch erhoben tragen

Zum Fall Wulff abschließend (abschließend?) ein Wort von Dario Fo:

Wenn es keine Skandale gäbe, müsste man sie erfinden, weil sie ein unentbehrliches Mittel sind, die Macht der Mächtigen zu erhalten und den Unmut der Unterdrückten fehlzuleiten. (...) Worauf es ankommt, ist der Skandal! (...) Damit endlich auch das italienische Volk sozialdemokratisch wird, wie die Völker Englands, Nordamerikas, Deutschlands usw. …moderne Völker! Damit unsere Mitbürger endlich stolz sagen können: "Ja, wir waten bis zum Hals in der Scheiße, aber genau deshalb tragen wir den Kopf hoch erhoben!"

Samstag, 19. November 2011

Die Wahrheit als Panne

Das Volk ist in der Demokratie der Empfänger von Macht, nicht ihr Ursprung
 
Was Wahrheit letztendlich und eigentlich ist, ob es überhaupt eine gibt und wenn ja, ob wir diese je erkennen können, und - falls wiederum ja - wie diese Wahrheit nun genau aussieht - darüber haben sich Generationen von Philosophen Gedanken gemacht. Eine Lösung hat bislang offensichtlich noch keiner gefunden, denn hätte es einer, so gäbe es nur noch 1 Philosophie, und zwar die richtige.
Nach langem Grübeln über das Leben, das Universum und den ganzen Rest bin ich für mich zu dem Ergebnis gekommen, daß wir niemals hinter die Wahrheit kommen werden und daß das auch ganz gut ist. Ich bin zum Anhänger des Jameiismus geworden, welcher besagt: Ja mei, da kannst nix machen, es is halt wies is.

Daß die Frage nach der Wahrheit immer noch unbeantwortet ist, sollte niemanden mehr freuen als die Philosophen selber. Die ewige Suche nach der Wahrheit ist für einen berufsmäßigen Philosophen nämlich ein wesentlich günstigeres Geschäftsmodell als ihr Finden. Käme tatsächlich einer dahinter, woher wir kommen, wohin wir gehen und welcher Sinn in dem Schlamassel dazwischen steckt, und könnte er zudem seine Antwort auch stichhaltig und unwiderleglich beweisen, so wäre die Luft aus aller Philosophie und Theologie heraus.
Aus, Äpfel, Amen. "Laden zu vermieten - Wegen mangelnder Nachfrage mußten wir die Firma 'Sein & Nichts GbR - Sinn en gros und en detail' leider schließen."
Wer den verlinkten Wikipedia-Artikel durchliest, wird merken, daß meine Schlußfolgerung natürlich Unsinn ist. So klar und eindeutig kann eine Antwort gar nicht sein, daß sich nicht doch Leute fänden, die nach der Antwort hinter der Antwort suchen.
Douglas Adams hat sich mit seiner Episode vom Computer Deep Thought (siehe wiederum den obigen Link auf die Wikipedia) über die Sinnsucher lustig gemacht. Nach einer Rechenzeit von 7,5 Millionen Jahren liefert der Supercomputer die Antwort: 42. Diese Antwort aber, so verkündet der Computer, bleibe sinnlos, solange man nicht die dazu passende Frage genau formuliert habe. Im weiteren Verlauf des Romans kommt der Held des Romans zufällig hinter die passende Frage: "Wie viel ist neun multipliziert mit sechs?". Wer das kleine Einmaleins noch im Kopf hat, dem wird auffallen, daß die Frage nicht zur Antwort paßt. Klar, Adams macht sich über die Sinnsucher lustig.
Und was passiert? Adams hätte es sich absurder nicht ausdenken können: Rudel von Sinnsuchern versuchen, hinter das Geheimnis der von Adams formulierten Lösung 42 zu kommen. Sie bemühen Lewis Carroll [1], das 13er-Zahlensystem, die Weisheit tibetischer Mönche etc., um auf die Spur eines bewußt formulierten Unsinns zu kommen. Adams selbst merkt dazu an: "Die Antwort darauf ist ganz einfach. Es war ein Scherz. Es musste eine Zahl sein, eine gewöhnliche, relativ kleine Zahl, und ich entschied mich für diese. Binäre Darstellungen, Basis 13, Tibetische Mönche, das ist alles kompletter Unsinn. Ich saß an meinem Schreibtisch, blickte in den Garten hinaus und dachte ‚42 wird gehen‘. Ich schrieb es hin. Ende der Geschichte." Dem wahren Sinnsucher jedoch ist klar, daß das nur ein Täuschungsmanöver von Adams sein kann, eine Finte, um die eigentliche Wahrheit zu schützen.
Was lernen wir daraus? Wer bekannt genug ist, um überhaupt wahrgenommen zu werden, der kann sagen und schreiben, was er will, er kann sogar ausdrücklich hinzufügen, daß all das, was er geschrieben habe, ein übermütiger Scherz gewesen sei - es nützt nichts. Einer hermeneutet immer.

Aber, Leute, ich habe mich verschwatzt. Eigentlich nämlich wollte ich von Peter Gauweiler erzählen, der einmal aus Versehen die Wahrheit gesagt hat.
Um die Jahrtausendwende hatte die CDU mit einer der üblichen, routinemäßigen Finanz- und Spendenaffären zu kämpfen. Im Januar 2000 hat Peter Gauweiler der Passauer Neuen Presse dazu ein Interview gegeben.
Dabei ist ihm ein Satz entschlüpft, den der zuständige Redakteur für so wichtig hielt, daß er ihn als Überschrift zum Interview wählte:
"Wir müssen dem Volk wieder mehr Macht geben."
In diesem kleinen Satz eines kompetenten Menschen [2] ist die ganze Wahrheit über die politische Realität der Bundesrepublik Deutschland enthalten.
Im Grundgesetz findet sich der lakonische Satz: "Alle Staatsgewalt geht vom Volke aus." Der Dichter Bertolt Brecht hat diesen Satz einmal um eine Frage ergänzt: "Wo aber geht sie hin?"
Zu Peter Gauweiler und seinen Freunden in Politik und Wirtschaft geht sie hin. Das wissen wir zwar schon lange, aber die Mächtigen in diesem Lande blasen normalerweise empört die Backen auf, wenn einer dergleichen behauptet. Sie verdächtigen ihn, er wolle eine andere Republik, eine andere Demokratie und natürlich haben sie recht mit diesem Verdacht. Nun aber hat einer aus dem Inneren Zirkel der Macht sein Nähkästchen geöffnet und uns plaudernd bestätigt, was wir bereits wissen.
Denn eines ist klar: Nur wer die Macht hat, kann ein Stückchen davon dem Volk abgeben.
Ich habe damals einen Leserbrief an die Passauer Neue Presse geschrieben, der Leserbrief wurde nicht abgedruckt (sie haben damals die meisten meiner Leserbriefe abgedruckt, das nebenbei). Und einen Internetanschluß hatte ich seinerzeit noch nicht. Denn das Internet vermag, recht genutzt, einiges in Bewegung zu bringen, was sonst unbeweglich geblieben wäre.

Als seinerzeit Bundespräsident Köhler in einem Rundfunk-Interview ein streng gehütetes Staatsgeheimnis ausplauderte, wurde er unverzüglich aus dem Amt gemobbt. Das Staatsgeheimnis war, daß Deutschland nicht wegen der Menschenrechte in Afghanistan Krieg führt, sondern in Wirklichkeit zur Wahrung seiner wirtschaftlichen Interessen [3]. Dieses Geheimnis kennt zwar jeder, der sich fünf Minuten Zeit nimmt, drüber nachzudenken, aber unter Politikern war (und ist) es strengster Comment, darüber nicht öffentlich zu sprechen.
Köhler hatte ein Tabu gebrochen, er hatte die große Lebenslüge bundesdeutscher Außenpolitik in die allgemeine Diskussion gezerrt. Der Skandal war nicht, daß er etwas Falsches gesagt hätte, er hat im Gegenteil etwas sehr, sehr Richtiges ausgesprochen, was aus Sicht der politischen Klasse besser ungesagt geblieben wäre.
Ich darf an dieser Stelle an das bekannte Wort von George Bernard Shaw erinnern: "Die Lebenserfahrung, diese Wissenschaft nach Hausmacher-Art, lehrt die von ihr Befallenen, daß es nicht die gänzlich neuen, für alle völlig überraschenden Nachrichten und Erkenntnisse sind, die aufgeregten Wirbel verursachen. Verblüffende Neuigkeiten machen uns allenfalls staunen, wirkliche und nachhaltige Empörung hingegen lösen jene Tatsachen aus, die jedermann längst bekannt sind, die lediglich von irgend jemandem irgendwann einmal ausgesprochen werden."
Wobei der Verplapperer von Köhler zunächst mal gar keine Empörung, noch nicht mal Wirbel verursacht hat. Keiner von den bekannten oder weniger bekannten Kommentatoren in den großen oder weniger großen Zeitungen oder Rundfunkanstalten hat sich darüber aufgeregt oder die Aussage auch nur erwähnt. In den Medien wurden die Äußerungen Köhlers nicht weiter beachtet, man könnte auch sagen, sie wurden totgeschwiegen. Das ging so weit, daß der Deutschlandfunk, der das entsprechende Interview gesendet hatte, auf seiner Website zunächst eine komplette Version des gesendeten Interviews brachte, nach einigen Stunden jedoch war an dieser Stelle eine geschnittene Fassung des Interviews zu hören, in welcher der brisante Satz fehlte!
Lediglich im Internet haben einige Blogger (unter anderem ein gewisser mcmac im "Freitag") das Thema aufgegriffen und die Leute auf diese Äußerung aufmerksam gemacht. Erst als im Netz die Wogen der Empörung so hochkochten, daß man sie nicht mehr ignorieren konnte, griffen auch die Medien die Geschichte auf.
Man hat die Affäre sehr geschickt gelöst, indem man Köhler zum Rücktritt veranlaßte. Durch seinen Rücktritt wurde viel über den Rücktritt und das durch die Kritik an Köhler angeblich beschädigte Amt gesprochen. Das eigentlich Interessante an dieser Geschichte, der Satz nämlich, der letztlich zum Rücktritt geführt hatte, wurde dadurch überwirbelt und unsichtbar gemacht und ist nach anderthalb Jahren bereits so gut wie vergessen.

Was man aus der Geschichte um Peter Gauweiler lernen kann? Ich glaube, es war Hercule Poirot, der einmal sinngemäß sagte: Wenn man sich mit den Leuten lange genug unterhalte, sie einfach plaudern lasse und ihnen aufmerksam zuhöre, dann komme man hinter ihre verborgenen Geheimnisse. Irgendwann verplappere sich jeder.


[1]   Lewis Carroll ist der Verfasser von "Alice im Wunderland" und war im Zivilberuf Mathematiker.
[2]   Das meine ich jetzt ernst und gar nicht sarkastisch.
[3]   "Meine Einschätzung ist aber, daß insgesamt wir auf dem Wege sind, doch auch in der Breite der Gesellschaft zu verstehen, daß ein Land unserer Größe mit dieser Außenhandelsorientierung und damit auch Außenhandelsabhängigkeit auch wissen muß, daß im Zweifel, im Notfall auch militärischer Einsatz notwendig ist, um unsere Interessen zu wahren, zum Beispiel freie Handelswege, zum Beispiel ganze regionale Instabilitäten zu verhindern, die mit Sicherheit dann auch auf unsere Chancen zurückschlagen negativ, bei uns durch Handel Arbeitsplätze und Einkommen zu sichern."

Mittwoch, 16. November 2011

Der Diktator als junger Mann

Die wenigsten werden es wissen, aber Muammar al Ghaddafi hatte in jungen Jahren schwer um seinen Lebensunterhalt zu kämpfen. Das ging so weit, daß er sich in Deutschland als Schauspieler verdingen mußte, um leidlich über die Runden zu kommen.
So was glaubt mir natürlich wieder mal kein Schwein, wie immer. Ich aber, wahrlich ich sage euch, ich habe Beweise.
Im Tatort "Kurzschluß" [1] spielt Ghaddafi, unter dem Künstlernamen Dieter Laser einen Bankräuber.



[1]        Regie Wolfgang Petersen, Klaus Schwarzkopf als Kommissar Finke, Günter Lamprecht als Landpolizist, und auch ansonsten hervorragend besetzt. Ein Juwel der Filmkunst, das meine ich ernst.

Dienstag, 8. November 2011

Vom Schreiben und vom Reden

1997 hielt der aus Film, Funk und Fernsehen wohlbekannte Philosoph Prof. Dr. Peter Sloterdijk auf dem 71. Bachfest der Neuen Bachgesellschaft e.V., Freiburg, einen ca. dreiviertelstündigen Vortrag mit dem Titel "Über das Hören". Der Vortrag wurde vom Südwestfunk aufgezeichnet und in der Tele-Akademie ausgestrahlt. Die Rede ist auch auf YouTube zu hören. Mir wurde diese Rede über einen Link anempfohlen und ich habe sie mir angehört.

Nein, ich will nicht lügen. Ich habe diese Rede nur an-gehört und dann, nach wenigen Sätzen, wieder aufgehört mit Hören.
Das lag nur zum geringeren Teil daran, daß Prof. Sloterdijk, im Gegensatz zu den Professoren, mit denen ich in Regensburg zu tun hatte, ganz offensichtlich kein begnadeter Vortragskünstler ist. Ich habe Mitleid mit seinen Studenten, die wohl oder übel in seine Vorlesungen gehen müssen. Einen derart einschläfernden Tonfall habe ich lange nicht mehr gehört, nicht mal der bayerische Wirtschaftsminister Zeil (und der ist ein Schlafmittel der Sonderklasse) kann hier mithalten.

Es war der Inhalt, der mich aufschreckte, und am Einschlafen hinderte. Der Vortrag beginnt nämlich mit folgenden Sätzen:
"Unter den Gebärden des Rechts auf Ergreifendürfen tritt von alters her die Macht als Wahrheit auf. Jedoch - in der Verweigerung der Ergriffenheit kommt die mühevoll erworbene strategische Klugheit zur Geltung, die weiß, daß durch das gutgläubige Ohr auch die Lügen gehen. Durch Widerstand wird das Subjekt geboren, als Kraftpunkt einer Nichtergriffenheit. Nach den psychohistorischen Standards der letzten zweieinhalb tausend Jahre kann als erwachsen zunächst nur gelten, wer sich einem umfassenden Defaszinationstraining unterworfen hat. In dem soll das Subjekt bis an die Schwelle gebracht werden, an der für es ein unergriffener Umgang mit einverständnisfordernden rhetorischen und musischen Verführungen möglich wird."
Leute, jetzt mal ganz im Ernst, kein Scheiß: Wenn ein Vortrag so beginnt, dann ist es Zeit, aufzustehen und in die nächste Kneipe zu gehen. Hohleres Geschwätz werdet ihr dort auch nicht hören, die Gäste mögen so besoffen sein, wie sie nur wollen.
Sicher, in der Kneipe wird das Geschwätz nicht auf diesem hohen sprachlichen Niveau wie bei Sloterdijk sein, es wäre denn, ich geriete zufällig in eine Intellektuellenkneipe. Intellektuelle sind auch mit hohen Promillewerten noch in der Lage, so zu sprechen, daß du als Nüchterner nichts, aber auch überhaupt nichts, verstehst. Dabei ist klar, daß eine solche Sprache, Promille hin oder her, eine Kunstfertigkeit voraussetzt, die auf Universitäten oder im Selbststudium mühsam erworben werden muß. Hat man sich diese sprachliche Kunstfertigkeit aber einmal angeeignet, dann wird die Verwendung dieser Sprache zu einer Methode, eigene gedankliche Schlamperei zu verbergen. Denn, machen wir uns nichts vor, kompliziert zu formulieren ist eine schnelle Sache für einen mit allen Salben geriebenen Akademiker, so etwas wird ihm zumindest in den Sozial- und Geisteswissenschaften antrainiert. Und weil der komplizierte Jargon auch noch so wunderhübsch klingt, dir jeder Kollege auf die Schulter klopft und "Toll, ganz toll, das" murmelt, kannst du dir einreden, du hättest alles ganz wunderbar durchdacht.
Nach meiner Erfahrung ist das Gegenteil der Fall: In der Oberstufe des Gymnasiums, als die Mathematik allmählich doch kompliziert wurde, habe ich für Klassenkameraden, die also auf gleichem Vorbildungsniveau waren wie ich, mit der Infinitesimalrechnung und Analytischen Geometrie aber nicht so gut zurande kamen (kostenlose) Nachhilfe gegeben. Manchmal habe ich lange geredet und keinen Durchbruch erzielt, es blieb Verständnislosigkeit zurück. Ich habe dann meine Erklärungen immer einfacher formuliert und irgendwann hat's dann doch "klick" gemacht und die anderen hatten verstanden. Und genau an diesem Punkt hat's auch bei mir "klick" gemacht - plötzlich hatte ich selbst verstanden, wirklich verstanden, was ich zuvor den anderen zu erklären versucht hatte.
Später, wenn ich einen nicht ganz platten Gedanken niederzuschreiben hatte, bestand die erste Fassung meines Textes in aller Regel aus langen, in viele Nebensätze verschachtelten Sätzen, die viele komplizierte Begriffe enthielten. Diese Fassung, die niederzuschreiben für mich relativ einfach war, wäre für andere nur schwer und mit großer Konzentration zu verstehen gewesen. Im Zuge der Überarbeitung wurden die Sätze kürzer, die Nebensätze wurden zu eigenen Sätzen, die komplizierten Wörter wurden durch einfachere ersetzt und nicht zu vermeidende komplizierte Begriffe sauber und möglichst einfach erklärt. Diese Überarbeitung kostete mich Mühe, manchmal große Mühe, das Ergebnis aber war nun angenehm zu lesen und relativ leicht zu verstehen.
Was mir dabei aufgefallen ist: Vorher war ich zu dieser einfachen Formulierung nicht imstande, denn am Anfang meines Schreib- und Denkprozesses hatte ich das, was ich mitteilen wollte, selber noch nicht richtig verstanden. Und das heißt: Je besser ich eine Sache verstehe, desto einfacher, sprich: verständlicher, kann ich sie darstellen.
Einfacher Stil ist also nicht nur ein Service am Leser, sondern auch ein Dienst an mir als Autor. Erst wenn die Sache einfach dasteht verstehe ich selber, was ich mir so gedacht hatte. Das ist keine Koketterie, sondern aus der Selbstbeobachtung abgeleitet.

Ich übersetze die ersten beiden Sätze von Sloterdijk so in Alltagsdeutsch: "Wer die Macht hat, behauptet von sich gerne, er habe und sage die Wahrheit. Wir aber wissen aus Erfahrung, daß das auch gelogen sein kann." Dagegen läßt sich nichts einwenden.
Die folgenden zitierten Sätze sind dagegen eine freche Lüge. In keiner Bildungseinrichtung, von der Grundschule bis zur Universität, wird systematisch ein Defaszinationstraining angeboten. Ganz im Gegenteil: Hast du Glück, verdammt viel Glück, dann bekommst du für eine gewisse Zeit einen Lehrer, der dich zur Skepsis gegenüber genau jener Ergriffenheit heischenden Imponiersprache anleitet, die Sloterdijk im Vortrag selber anwendet. Im Normalfall aber hast du kein Glück, du lernst vielmehr, den Blähsprech von Sloterdijk und anderen Großdenkern für gedankentief zu halten und als Philosophie zu verehren.
In meinen Studentenzeiten kannte ich einen Kommilitonen, der mir auf die Frage, was ich von einem bestimmten Buch eines bestimmten Autors [1] zu halten hätte, antwortete: "Ganz hervorragend, das Buch, ich habe kein Wort verstanden." Nein, Leute, tut alle Hoffnung ab, das war nicht ironisch gemeint von ihm.

Gegen Sloterdijks erste beiden Sätze läßt sich, wie gesagt, nichts einwenden, denn sie formulieren eine in ihrer Plattheit nicht zu bestreitende Wahrheit. Das ist kein Sarkasmus meinerseits, denn natürlich läßt sich nicht prinzipiell etwas gegen das Aussprechen von Plattheiten sagen. Manchmal, und gar nicht mal so selten, ist es schlicht notwendig, in einer Argumentation einige Selbstverständlichkeiten zusammenzufassen, um dann, von diesen Plattheiten ausgehend, einen differenzierten und vielleicht sogar neuen Gedankengang zu entwickeln. Die ausgesprochenen Plattheiten dienen dazu, Einverständnis herzustellen, bzw. zu überprüfen, ob Einverständnis besteht: Hier, auf dieser niedrigen Ebene, sind wir uns noch alle einig, jetzt schaumermal, ab wann sich Widerspruch zum von mir Vorgetragenen einstellt.
Nichts gegen Plattheiten also, die werfe ich Sloterdijk gar nicht vor. Was ihm vorzuwerfen ist der Umstand, daß er diese Plattheiten so formuliert hat, als handele es sich um kostbare Wahrheiten. Er hat die Todsünde jedes Menschen begangen, der einen Text schreibt: Er hat seinen Text komplizierter formuliert als es unbedingt nötig gewesen wäre.

Ich weiß nicht, ob Sloterdijk den vorgetragenen Text ursprünglich für die Veröffentlichung als Buch oder Zeitschriftenbeitrag verfaßt hat, oder ob es sich von vorneherein um ein Redemanuskript handelt. Es spielt auch nicht die wirklich große Rolle. Wichtig ist nur, daß ihm klar war, klar sein mußte, daß er diesen Text zu einem bestimmten Zeitpunkt als Rede halten würde.
Schon zu meiner Studentenzeit, die inzwischen auch schon wieder geraume Zeit zurückliegt, war es unter Kommunikationswissenschaftlern eine... hmnja, Plattheit, daß eine Rede keine Schreibe ist. Das heißt, es ist eine völlig andere Kommunikationssituation ob ich einen geschriebenen Text in einer Zeitschrift oder einem Internet-Forum veröffentliche oder ob ich ihn als gesprochenen Text einem anwesenden Publikum vortrage.
Habe ich einen geschriebenen Text vor mir, so kann ich zum einen meine Lesegeschwindigkeit selber bestimmen; bestimmte Passagen lese ich einfach locker weg, bei anderen muß ich erst mal - und seien es nur wenige Sekunden - drüber nachdenken, ehe ich sinnvoll weiterlesen kann. Dieses Innehalten um nachzudenken ist manchmal auch bei einem einfach formulierten, also sorgfältig durchdachten Text nötig, schlicht deshalb, weil die Sache selbst nicht so ganz einfach ist.
Zum anderen kann ich bei einem geschriebenen Text nach Belieben zurück oder nach vorne blättern, wenn mir etwas unklar bleibt. Bei einem Vortrag ist das nicht möglich [2]. Kompakte Formulierungen, bei denen der Inhalt dichtestmöglich zusammengedrängt ist, Sätze, die lang und verschachtelt sind, sind für einen Vortrag tödlich.
Geschriebene Sprache kann redundant sein, also dasselbe mehrmals auf verschiedene Weise - einmal etwa abstrakt, das andere mal anhand von Beispielen - erklären. Redundanz macht einen Text angenehm zu lesen, und ein angenehm zu lesender Text ist eine Geste der Höflichkeit und Wertschätzung des Schreibenden gegenüber dem Leser. Ein Vortrag muß redundant sein, ansonsten ist er nur für Zuhörer geeignet, die ohnehin bereits wissen, was der Vortragende sagen wird. In diesem Falle aber ist der Vortrag überflüssig.

Ich verstoße allerdings selber gerne gegen die an sich beherzigenswerte Formel, daß eine Schreibe keine Rede sei. Geschriebenes formuliere ich oft so, als säße mir der Leser gegenüber und ich würde mit ihm von Angesicht zu Angesicht sprechen. Ich gestehe, daß dies eine ausgesprochen egoistische Gewohnheit ist. Zum einen möchte ich über dem Korrekturlesen nicht einschlafen, sondern ein gewisses Vergnügen daran haben. Zum anderen aber - und dies vor allem - möchte ich das, was ich schreibe, selber verstehen.
Ich weiß, ich verlange viel.


[1]   Ich habe Gott sei Dank vergessen, um welches Buch, um welchen Autor es sich handelte.
[2]   Allenfalls, wenn ich ihn als Aufzeichnung höre.

Dienstag, 1. November 2011

Der Wimmer Dammerl über Ehe und Krieg

Thomas Wimmer (1887 - 1964) war von 1948 bis 1960 Oberbürgermeister von München. Er hatte 1913 geheiratet, nach dem Tod seiner ersten Frau heiratete er 1938 erneut.
1939 soll er gesagt haben: "Jedesmal, wenn ich heirate, bricht's Jahr drauf der Krieg aus."

Der Verlauf der Geschichte hat uns gelehrt, daß Thomas Wimmer kein drittes Mal geheiratet hat. Und wir alle sollten uns freuen, daß die Wimmersche Heiratsregel nicht für Gerhard Schröder oder gar Joschka Fischer gilt.

Samstag, 22. Oktober 2011

Literaturkritik als Feuerwehr

Im Juni 1965 wurde im Zürcher Fernseh-Studio eine Diskussion zwischen dem Literaturkritiker Marcel Reich-Ranicki, dem Literaturprofessor Hans Mayer und dem Schriftsteller Friedrich Dürrenmatt über die Funktion der Literaturkritik und über die Rolle der Kritiker aufgezeichnet.
Die drei Herren sitzen gemütlich da, vor ihnen Kaffeetassen, Wein- und Likörgläser, auf dem Tisch einige Flaschen, die ersichtlich kein Mineralwasser enthalten und bereits zu Beginn der Diskussion nicht mehr ganz voll sind. Hans Mayer spricht mit nacktem Mund, während Reich-Ranicki und Dürrenmatt eifrig Zigarren rauchen.
Und dann bricht ein Brand im Aschenbecher aus. Der Schriftsteller und Brandstifter Dürrenmatt bleibt gelassen, während sich die Kritiker zum Löschen verpflichtet fühlen.


Wer sich - kehren wir zurück zu Aristoteles - nicht nur für Sitcoms interessiert, sondern sich die ganze Diskussion anschauen möchte, der kann das hier tun:

In seinem Buch "Theaterprobleme" schreibt Dürrenmatt: "Die Literatur muß so leicht werden, daß sie auf der Waage der heutigen Literaturkritik nicht mehr wiegt. Nur so wird sie wieder gewichtig."