Donnerstag, 28. Juli 2022

Zwischen Obndrom und Untndrunt

 Das Irritierende an Australien

Waren Sie schon mal in Australien? Wenn Sie schon mal in Australien oder Argentinien oder Südafrika waren, dann wissen Sie natürlich, daß in Australien oder Argentinien oder Südafrika - anders als bei uns - die Sonne rechts aufgeht und sich links zum Untergange neigt. Ein absolut faszinierendes Naturschauspiel, das dein kindliches Herz Zittern macht.

Australienreisende berichten mir allerdings, dieser Umstand sei ihnen gar nicht aufgefallen, als sie seinerzeit in Down Under [1] gewesen seien. Das rührt daher, denke ich mir, daß ganz, ganz viele Leute viel zu dumm sind, um aus dem Fenster zu schauen.

"Du siehst? Was siehst du? Du siehst gar nichts, du glotzt. Glotzen ist nicht sehen." In Brechts Stück "Leben des Galilei" sagt Galileis Schüler Andrea Sarti, die Erde könne gar keine Kugel sein, denn ansonsten würden die Menschen auf der Südhalbkugel von der Erde in's unfaßbare Nichts stürzen. In dieser Szene zeigt Galilei Andrea einen Apfel und sagt, der Apfel solle jetzt die Erdkugel darstellen. Dann piekst er einen Holzsplitter aus einem Kaminscheit - der einen Menschen darstellen soll - in den Apfel und Andrea sagt richtig, der Mensch stehe aufrecht, sein Kopf sei oben. Galilei dreht den Apfel um 180 Grad und Andrea sagt, jetzt hänge der Mensch umgedreht in der Welt, sein Kopf sei unten. Dann sagt Galilei die oben zitierten Sätze, denn natürlich sind die Beine des Holzsplitters immer noch im Apfel, das heißt der Erdkugel und der Kopf ist immer noch oberhalb der Knie.

Ich war übrigens noch nie in Australien oder Argentinien oder Südafrika. Gottlob habe ich Flugangst und steige deshalb nie in ein Fluchzeuch ein. Warum soll ich die Welt bereisen - so meine Devise - wenn andere [2] dies freiwillig tun und mir dann von der Welt erzählen und Bilder davon zeigen? Unsere Urgroßeltern mußten nach Afrika reisen oder in Hagenbecks Tier- und Völkerschau in Hamburg gehen, wenn sie einen Elefanten oder Neger sehen wollten. In unseren glücklichen Zeiten kommen die Neger etc. pp. zu uns oder sind schon seit langem da.

Wenn die Wüste abgeschnitten wird

Wenn du kaum verreist dann hast du viel Zeit, dich zu bilden und zum Beispiel im Fernsee Dokumentarfilme über die Welt, das Universum und den Rest anzuschauen. Ich saß mal vor dem Fernseher und schaute aus dem Fenster eines Flugzeuges. Unter mir lag die Sahara, genau so, wie du dir die Sahara vorstellst: Sand, Sand, Sand. Der Sand wollte gar kein Ende nehmen und er nahm kein Ende. Und plötzlich - wusch! - lag unter mir das Meer, ohne daß der Film geschnitten gewesen wäre. Ich hatte mir immer vorgestellt, zwischen Wüste und Atlantik läge ein, wenn vielleicht auch nur schmaler Streifen grünen, bewirtschafteten und bewohnten Landes oder doch wenigstens eine Küstenstraße. In Wirklichkeit schwimmst du im Atlantik, steigst in Mauretanien an Land und betrittst den traumhaft feinsandigen Strand Nordafrikas. Du hast Appetit auf ein Steckerleis, stapfst über den Sandstrand, die Strandbar zu suchen und findest sie erst nach knapp 5000 km irgendwo in der Nähe von Kairo.

In der Steppe von Kasachstan

Früher, als es noch die Sowjetunion gab und der Kapitalismus sich zwar auch schon Schweinereien erlaubte, die allergröbsten Sauereien aber nicht, landeten die Raumkapseln der Kosmonauten üblicherweise irgendwo in der Grassteppe von Kasachstan. Ich erinnere mich noch an die Bewegten Bilder in der Tagesschau: Eine Gruppe von Menschen stand herum und wartete darauf, daß es Kosmonauten regnete, eine andere Gruppe filmte die wartenden Menschen, war aber selber nicht zu sehen. Die Kapsel war mit einem Male zu sehen, der Bremsfallschirm ging auf und die Kapsel landete, Staub aufwirbelnd.

Die Luke öffnete sich und als der erste Kosmonaut erschien, lachten die Frau des Kosmonauten und sein Kamel vor Freude über die glückliche Heimkehr.

Die Raumfahrer waren mir seinerzeit ziemlich wurscht, was mich beeindruckte - das aber sehr - war die Landschaft, diese brettlebene Gegend, die eigentlich gar keine Landschaft ist. Ich mein, brettleben ist es nördlich von München und südlich von Hamburg auch, aber dort gibt's Bäume, Sträucher, Fernsehtürme, die allesamt die Sicht versperren. Wären diese lästigen Zeugnisse der Aktivität von Natur und Mensch nicht, dann könnte man vom Hamburger Fernsehturm aus bis zum Ural schauen [3] und man sähe schon von weitem, wenn Putin mal zu Besuch auf einen Kaffee käme.

Es müßte, so dachte ich mir und denke es noch, in der kasachischen Steppe so sein wie auf dem Offenen Meer bei absoluter Windstille. Eine faszinierende Vorstellung, im wahrsten Sinne atemberaubend. Man hat mich mit dem Hubschrauber an diesen Punkt der Unendlichen Steppe gebracht, dann ist das Fluggerät wieder weggeflogen und ich stehe nun mutterseelenallein in diesem gräsernen Meer. Langsam drehe ich mich um 360 Grad und sehe immer das gleiche Bild einer kurzgrasigen Wiese, sonst nichts. Kein Baum, kein Strauch, keine menschliche Behausung. Noch nicht einmal ein Fernsehturm. Ich muß mich flach auf den Boden legen und die Augen schließen, um nicht von der Angst vor der Unendlichen Weite aufgefressen zu werden. Einen ungefähren Eindruck von dieser alptraumhaften Situation vermittelt dir die Szene mit dem crop duster in Alfred Hitchcocks Film "Der unsichtbare Dritte" (North by Northwest).


 

Passau taucht aus dem Meer auf

Als Schüler war ich mal auf einem Wochen­end-Seminar auf der Veste Oberhaus in Passau, gesponsert von der Schule, veranstaltet vom Volksbund für Frieden und Freiheit, einer höchst dubiosen Organisation. Es war im September/Oktober, die Nächte waren bereits ziemlich kalt, die Erderwärmung noch nicht erfunden und die Heizung hatten sie in der Jugendherberge nachts abgedreht. Ich hab gefroren wie ein Schneider oder wie zwei nackerte Schuhlehrer.

Endlich war die Nacht vorbei, der Sonntag war angebrochen. Ich ging hinaus, um einen Blick auf die tief unter mir liegende Stadt zu werfen. Die Sonne war bereits aufgegangen, es war wolkenlos, hell, aber Passau war weg. Wo Passau hätte sein müssen, war ein Nebelmeer. Schneeweißer Nebel im Sonnenschein zwar, aber eben doch Nebel. So muß sich Beowulf, der Held, gefühlt haben, damals in grauer Vorzeit, als unsere alt gewordene Welt noch jung und bunt war und erfüllt von Leben.

Ich atmete tief durch, genoß den Anblick. Heilige Schauer durchrieselten mich, als mit einem Male die Glocken zu läuten anfingen, ein Klang, der mahnend aus dem Nebel kam: "Jesus Christus ist unser Herr." Und dann erschien ein Kreuz. Nichts als ein aus dem Weißen Meer ragendes Kreuz, dazu das christkatholische Sonntagsläuten. Wäre ich nicht schon katholisch gewesen, ich hätte mich unverzüglich taufen lassen. Und dann eine Zwiebel unter dem Kreuz und noch ein Kreuz und noch eine Zwiebel, und immer noch die Sonntagsglocken.

Zwei Monate später ritt ich mit meinem Heer in Jerusalem ein, nachdem ich zuvor die heidnischen Muselmanen niedergemetzelt hatte. Nie war Religion schöner.



[1]   Diese doppelte Betonung des Untenseins gibt es im Deutschen nicht, wohl aber im bairischen Dialekte, wo man ohne mit der Wimper zu zucken untn drunt sagt.

[2]   Hatte ich an dieser Stelle im Manuskript wirklich "andere Idioten" stehen?

[3]   Nicht, daß irgendeiner, der es nicht muß, den Ural sehen wollte.

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