Samstag, 20. November 2021

Ich war auch mal Nazi

Wer über Rechten Radikalismus schreibt oder spricht oder auch nur nachdenkt, muß sehr präzise unterscheiden zwischen rechtem Radikalismus und Rechtsradikalen. Rechtsradikale sind gar nicht mal so selten Leute, die gedankenlos irgendwelchen Scheisendreck nachplappern, den man ihnen ins Hirn geblasen hat. Ohne mit der Wimper zu zucken verwenden sie beispielsweise das beleidigende Wort "Farbiger" für einen Menschen dunklerer Hautfarbe.

"Farbiger" ist nämlich - merkt auf - alles andere als politisch korrekt. Mit der Vokabel "Farbiger" bezeichnet man gemeinhin nicht nur einen "Neger", wie dunkel oder hell seine Haut immer sein mag, sondern jeden, der kein Europäer vom "kaukasischen Typ" [1] ist, also Menschen aller möglichen Hautfarben und Varianten des Aussehens. Damit teilt man die Menschheit in lediglich zwei Gruppen ein:

* Die Weißen [2] einerseits und

* andererseits die anderen, all die anderen.

Wir sind, das suggeriert uns das Wort "Farbiger", die eigentlichen Menschen, die Referenz-Menschen, an denen alle anderen gemessen werden. Mit anderen Worten: Wir sind die Normalen, all die anderen sind... eben farbig. Rassistischer geht es nicht mehr.

Wie auch immer. Ich war selber mal rechtsradikal... Was brabbele ich da beschönigend vor mich hin... ich war ein Nazi, so richtig einer. Da war ich aber 13 und Nazi war ich auch nur für ein paar Wochen. Der Vater eines gleichaltrigen Schulfreundes hatte als einer der örtlichen Honoratioren das damals neu erschienene Buch "Der deutsche Selbstmord" [3] von Kurt Ziesel [4] kostenlos zugeschickt bekommen, selber aber anscheinend weder die Zeit noch die Lust gehabt, den Schinken zu lesen. Mein Freund hat es sich geschnappt, war beeindruckt von dem Buch und hat es mir weitergegeben. Das Buch war mein erster Kontakt überhaupt mit Politik und Zeitgeschehen (vorher kannte ich mich in der Welt von Odysseus und Lucius Tarquinius Superbus [5] sehr viel besser aus als im Deutschland Adenauers) und ich war begeistert von den Thesen gegen die Linksintellektuellen dieser Zeit. Okay, das hat sich, wie gesagt, rasch gelegt, aber es hat dann doch noch eine zeitlang gedauert, ehe ich über  CSU (auch nur ganz kurz) und SPD und einer liberalen Grundhaltung schließlich bei Marx gelandet bin. Mein intellektuelles Immunsystem hat die Infektion niedergekämpft.

An der Uni habe ich mich dann in eine Marxistin verliebt, dann in eine andere, in beide - versteht sich - unsterblich. Hormonell bedingt habe ich mich damals mit dem Marxismus und schließlich auch mit Marx beschäftigt. In die Bücher, die ich damals gelesen habe, habe ich eine Unmenge kritische Randbemerkungen geschrieben. Einiges am Marxismus-Leninismus sowjetischer Prägung erschien mir richtig, vieles andere dagegen als engstirnig und dogmatisch.

Schließlich fiel mir der "Anti-Dühring" von Engels in die Hand und eine neue Welt tat sich vor mir auf. Die ollen Klassiker, so merkte ich, sind gar nicht so dogmatisch, wie das ihre Anhänger immer behaupten. Vor allem Engels hat mich durch seinen Skeptizismus beeindruckt, der auch vor der eigenen Meinung nicht halt macht. Ich schätze übrigens Engels immer noch wesentlich höher als Marx, eben wegen seiner Skepsis und undogmatischen Haltung.

Ab da war es um mich geschehen, ich bin seither nicht mehr von der materialistischen (das Bewußtsein leitet sich aus dem Sein ab und nicht umgekehrt) und dialektischen (alles ist in ständiger Bewegung, nichts bleibt, wie es ist) Sicht auf die Dinge losgekommen. So habe ich Denken gelernt.

Als ich noch in der Straffälligenhilfe (ein Wort, das man durchaus näher betrachten und kritisieren könnte) tätig war, habe ich mit einem Haftentlassenen - Figur wie ein Türsteher, rechtsradikal wie die Sau und mehrfach wegen Körperverletzung vorbestraft - eine längere Diskussion über Patriotismus, Nationalismus und dergleichen Dinge mehr geführt. Ich habe ihm erklärt, was es mit der ersten Strophe des Deutschland-Liedes eigentlich auf sich hat und wieso der Autor damals in allen 36 deutschen Staates steckbrieflich wegen Demagogie gesucht wurde. Diese Information hat anscheinend die richtige Stelle in seinem Hirn berührt, er fing an, zu grübeln und trat schließlich relativ kurze Zeit später in die SPD ein. Nein, er war dort kein früher Sarrazin, sondern ein richtiger Sozialdemokrat. Auf diese "Bekehrung" bin ich heute noch stolz.

Ich selber war übrigens niemals in der SPD. Ende der sechziger Jahre wollte ich eintreten, dann aber wurde Willy Brandt Bundeskanzler und ich verschob mein Vorhaben. Ich wollte nämlich keinesfalls für einen Opportunisten gelten, der sich schnell mal den siegreichen Bataillonen anschließt. Als ich dann bereit war einzutreten, wurde Helmut Schmidt Bundeskanzler und es gab nicht mehr den mindesten Anlaß mehr für einen SPD-Parteieintritt.

 

Die neue (Co)-Sprecherin der Grünen Jugend in Deutschland, Sarah-Lee Heinrich ([6]), ist in diesen Tagen wegen einiger krasser Formulierungen als 13jährige in's Gerede gekommen. Was für ein Glück für mich, daß es zu meiner Zeit noch kein Internet gab, ich also keine Gelegenheit hatte, meinen Hirnmüll zu verbreiten. Die Gnade der frühen Geburt.

 

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[1]   Was immer das sein mag.

[2]   Was immer das sein mag.

[3]   Der Titel erinnert an Sarrazins "Deutschland schafft sich ab", larmoyantes Gejammer scheint ein running gag unter Rechten zu sein.

[4]   Über die Attentäter des 20. Juli 1944 schrieb er am 3. September 1944 im Wiener Völkischen Beobachter: „An welchem Abgrund menschlicher Verworfenheit oder geistiger Umnachtung müssen jene Ehrgeizlinge gestanden haben, als sie, wider den Geist des ganzen Volkes sündigend, die Hand gegen den Führer erhoben. (...)  Jeder, der sich wider den Geist des Krieges versündigt, muß vernichtet werden.  

[5]   Ich hatte den Namen damals wie Suuperbuus gelesen und mich weidlich gewundert, wieso ausgerechnet ein Mann einen solch dezidiert weiblichen Beinamen trug.

[6]   Mein bürgerlicher Name ist zwar Wolfram Heinrich, mit Sarah-Lee Heinrich bin ich allerdings weder verwandt noch verschwägert.

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