Sonntag, 1. November 2020

Die schwimmende Stadt

Ich möchte Ihnen heute einen Dokumentarfilm vorstellen, so altmodisch, wie ein Dokumentarfilm von früher nur immer altmodisch sein kann.

Ich sag's gleich vorneweg: Es vergehen satte 5 Minuten und 20 Sekunden. ehe der erste Satz gesprochen wird. Davor gibt es nur Impressionen, Originalgeräusche, langsame bedächtige Bilder und eine dazu passende ruhige Musik.

Stell dir einen Moment lang vor, du wärst, vor dem Fernseher sitzend, nur zufällig in diese Sendung geraten. Als der Schriftzug mit dem Ortsnamen eingeblendet wurde, hast du dir gerade ein Bier eingeschenkt und nicht hingeschaut. Du siehst nur die folgenden Worte des Titels "Die schwimmende Stadt" und siehst dann die Bilder - 5 Minuten, 20 Sekunden lang. Was denkst du dir in dieser langen Zeit? Was für eine Stadt!, denkst du. Bella Italia!

Pfeifendeckel. Es ist nicht Venedig und auch sonst keine ins Meer gebaute italienische Stadt, es ist Passau bei Österreich.

1975 hat Dieter Wieland im Rahmen seiner Dokumentarfilmreihe "Topographie" den Film "Passau, die schwimmende Stadt" gedreht.

Wer sich diesen Film anschauen will, sollte sich einen Sack Zeit als Wegzehrung mitnehmen. So langsam der Film beginnt, so bedächtig geht es weiter. Keine schnellen Schnitte, keine dynamischen Schwenks, kein aufgeregter Kommentar. Den Text spricht Dieter Wieland selbst, er spricht keine einfachen Sätze, gewiß, aber er spricht langsam, bedächtig, er läßt dir die nötige Zeit, seine Sätze abzuschmecken und zu verstehen. Die ruhige Sprechweise ist beruhigend, ohne einschläfernd zu wirken. Das ist großes, ganz großes Kino!

Wieland spricht vom heutigen Passau, vor allem aber erzählt er dir was vom früheren Passau. Keltensiedlung, Römerkastell, Bischofssitz, Missionszentrum.

Passau ist die Mutter Österreichs. Von Passau aus, das seinerseits von den Römern kolonisiert und kultiviert worden war, ist die untere Donau, bis nach - mindestens - Ungarn christianisiert und kultiviert worden. Aber was red ich, laßt euch die Geschichte Passaus von Dieter Wielands Film direkt erzählen.

Eine Bitte habe ich: Wenn es euch möglich ist, schaut euch den Film am Stück an, keine Unterbrechungen. Geht vorher pinkeln und wenn das Telefon klingelt, laßt es klingeln oder besser noch: Schaltet das verdammte Klingelphon für eine Dreiviertelstunde aus. Und vor allem: Während ihr den Film anschaut, macht nichts anderes.

 

 

Und? Ging's?

Falls ja... Gratulation! Ich habe es nicht geschafft, ich bin beschämt. Ich habe mir den Film bereits x-mal angeschaut und immer war was, das mich den Film unterbrechen ließ. Nicht beim ersten Mal, klar, 1975, als ich den Film original während des laufenden Programms angeschaut habe. Damals hatte ich noch keinen Videorecorder, damals mußte ich den Film noch am Stück anschauen. Eine Dreiviertelstunde fokussiert sein auf eine Sache, damals war das selbstverständlich, zum Lebensgefühl passend, von der Technik erzwungen.

Von früher Jugend an hatte ich davon geträumt, Filme handhaben zu können wie Bücher, unabhängig vom Spielplan der Kinos und dem aktuellen Fernsehprogramm. Eines Tages, so dachte ich, werden sich die Menschen in der fer­nen Zukunft einen Film aus dem Regal holen können, wann immer sie grad Zeit und Lust haben und sie werden sich den Film anschauen, solange sie Zeit und Lust haben, und so oft sie das wollen. Ende der siebziger Jahre wurden Videorecorder auch für Privatpersonen erschwinglich, mein Traum war lange vor der von mir erseufzten Zeit Wirklichkeit geworden.

Heute ist es für mich in dieser Hinsicht eher traurig. Heute ist es die Ausnahme, daß ich eine 45minütige Dokumentation, geschweige einen anderthalb Stunden langen Spielfilm am Stück anschaue. Und - das vor allem! - ich habe es mir angewöhnt, während des Anschauens ein weiteres Fenster offen zu halten, in welchem ich gleichzeitig das Computer-Kartenspiel Freecell spiele [1].

 

So ein Verhalten ist beunruhigend, es ist pathologisch, ich mache mir da keine Illusionen.

Ich bin in eine Zeit hineingewachsen, in der sensible Säusler anfingen, die Gefühlskälte der Bürgerlichen Gesellschaft zu kritisieren. Quirlige, vor Dynamik vibrierende Frauen redeten auf mich ein und langten mir, kaum daß wir uns eine halbe Stunde kannten, an den Rücken und meinten, Gott, sei ich verspannt, ich müßte unbedingt Entspannungsübungen machen. Meinen Einwand, für Entspannungsübungen sei ich viel zu träge und faul, nahmen sie nicht ernsthaft zur Kenntnis. Für sie waren Entspannung, Yoga und Meditation eine Art Leistungssport, sie strebten danach, Hochleistungsbuddhisten zu werden.

Und wenn ich dann irgendwann - das dauerte, ich bin ein geduldiger Mensch - grantig wurde und ihnen meinen Zorn wegen ihrer übergriffigen Antatscherei entgegenknurrte, war das offene Ausleben von Gefühlen plötzlich gar nicht mehr so positiv.

Inzwischen hätte ich Entspannungstraining wahrscheinlich bitter nötig. Je älter ich werde, desto wepsiger werde ich. Wenn man freundlich ist könnte man es auch "temperamentvoll" nennen, muß es aber nicht.

Was soll ich mir vormachen? Ich tu mir mittlerweile schwer, bei einer Sache zu bleiben. Das ist die berühmte Multitasking-Fähigkeit [2], ruft einer, der von nix was versteht. Ich sollte doch froh sein, daß ich in meinem Alter noch gedanklich so locker hin- und her-switchen könne. Ich bleibe eher skeptisch. Multi-Tasking-Künstler, gleich welchen Geschlechts, bekommen von allem, das sie gleichzeitig machen, nur einen Teil mit. Und "nur einen Teil mitbekommen" heißt in letzter Konsequenz fast immer: Nichts mitbekommen.

Aber ich schweife ab, dabei wollte ich noch ein bisserl über Passau reden.

Wenn man es genau nimmt - und man sollte es genau nehmen, wenn es sich um Wissenschaft handelt - dann mündet nicht die Donau in das Schwarze Meer. Sondern? Sondern der Inn.

Schau dir mal dieses Bild an: 

Da kommt am oberen Bildrand die immer noch junge Donau angeflossen und an der Ortsspitze von Passau gesellt sich der Inn dazu. Überdeutlich sieht man die Spuren, das hellere Lehmwasser des Inn drückt das dunkle Donauwasser regelrecht zur Seite. Hoppla, jetzt komm ich!

Welcher Narr ist damals und seinerzeit auf die Idee gekommen, den durch den Zusammenfluß entstandenen Fluß Donau zu nennen? Regensburg liegt an der Donau, klar, Wien und Budapest dagegen definitiv am Inn.

 

Und dann war da noch der Nebel. Als Schüler war ich mal auf einem Wochen­end-Seminar auf der Veste Oberhaus in Passau (auf dem Satellitenbild ganz oben, etwas links von der Bildmitte). Das Thema war die Sowjetunion, der Referent war Graf Dracula oder doch einer, der ausgesehen hat, als wäre er Graf Dracula. Es war im September/Oktober, die Nächte waren bereits ziemlich kalt, die Erderwärmung noch nicht erfunden und die Heizung hatten sie in der Jugendherberge nachts abgedreht. Ich hab gefroren wie ein Schneider oder wie zwei nackerte Schuhlehrer.

Endlich war die Nacht vorbei, der Sonntag war angebrochen. Ich ging hinaus, um einen Blick auf die tief unter mir liegende Stadt zu werfen. Die Sonne war bereits aufgegangen, es war wolkenlos, hell, aber Passau war weg. Wo Passau hätte sein müssen, war ein Nebelmeer. Schneeweißer Nebel im Sonnenschein zwar, aber eben doch Nebel. So muß sich Beowulf, der Held, gefühlt haben, damals in grauer Vorzeit, als unsere alt gewordene Welt noch jung und bunt war und erfüllt von Leben.

Ich atmete tief durch, genoß den Anblick. Heilige Schauer durchrieselten mich, als mit einem Male die Glocken zu läuten anfingen, ein Klang, der mahnend aus dem Nebel kam: "Jesus Christus ist unser Herr." Und dann erschien ein Kreuz. Nichts als ein aus dem Weißen Meer ragendes Kreuz, dazu das christkatholische Sonntagsläuten. Wäre ich nicht schon katholisch gewesen, ich hätte mich unverzüglich taufen lassen. Und dann eine Zwiebel unter dem Kreuz und noch ein Kreuz und noch eine Zwiebel, und immer noch die Sonntagsglocken.

Zwei Monate später ritt ich mit meinem Heer in Jerusalem ein, nachdem ich zuvor die heidnischen Muselmanen niedergemetzelt hatte. Nie war Religion schöner.



[1]   Im übrigen das einzige Computerspiel, das ich spiele.

[2]   Die man Frauen gerne nachsagt.

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