Donnerstag, 30. Juli 2009

Regietheater - Die zweite

Daß Daniel Kehlmanns Salzburger Rede vom 24. Juli 2009 zum Regietheater etliche alles in allem recht aufgeregte Kommentare provoziert hat, ist bemerkenswert. Bemerkenswert insofern, als Kehlmann - genau besehen - gar nicht richtig zugeschlagen hat, sondern bloß ein bißchen spielerisch angedeutet hat, wo man hinhauen könnte. Die Heftigkeit der Reaktionen läßt auf ein gläsernes Kinn bei den angegriffenen Boxern schließen.

Selbst der uralte Kalauer, es sei schließlich jedes Theater zwangsläufig Regietheater wird jetzt aus gegebenem Anlaß wieder ausgegraben. Jeder weiß zwar, daß der Begriff Regietheater gemeinhin in einem engeren Sinne als "Regie im Theater" verwendet wird, aber man tut so, als wüßte man es nicht und erntet so einige wohlfeile Lacher von schlichteren Gemütern.

Kehlmann sprach davon, es sei "eher möglich, unwidersprochen den reinsten Wahnwitz zu behaupten (...) als leise und schüchtern auszusprechen, daß die historisch akkurate Inszenierung eines Theaterstücks einfach nur eine ästhetische Entscheidung ist, nicht besser und nicht schlechter als die Verfremdung, auf keinen Fall aber ein per se reaktionäres Unterfangen." Man stürzt sich auf das Wort von der "historisch akkuraten Inszenierung" und baut sich als Gegenpol zum Regietheater das museale Theater auf - Shakespeare nur so, wie man es im Globe Theatre einst sah: Bei Tageslicht, ohne Beleuchtungseffekte, Hamlet in Strumpfhosen, Frauenrollen von Männern gespielt etc. pp. - Lächerlich das, sagt man und mit recht. Als ob es darum ginge.

Es geht darum, daß Shakespeare einen Text hinterlassen hat, die Vorlage für ein aufzuführendes The­a­terstück. Diesen Text kann ich lesen, mir das Stück also selbst im Hirn inszenieren oder ich kann es mir im Theater anschauen. Wenn ich mir ein Stück von Shakespeare, das ich zuvor noch nicht gelesen habe, im Theater ansehe, dann möchte ich nach dem Verlassen des Theaters eine ziemlich gute Vorstellung davon haben, was Shakespeare eigentlich geschrieben hat.

Aber, hör ich, das sind doch alte Stücke, die womöglich in noch viel älterer Zeit spielen. Wir müssen zu diesen alten Stücken neue Zugänge finden, wir müssen die zu Monumenten erstarrten Klassiker zerlegen und neu zusammensetzen, damit wir uns und unsere Welt in diesen Stücken wiedererkennen können.

Ah so.

Merkwürdigerweise habe ich beim Lesen dieser alten Stücke so gar nicht den Eindruck, als wehte mir der Staub der Jahrhunderte entgegen. Und bei denen, die ich nach quälender Lektüre schließlich wieder zuklappe, käme ich nie auf die Idee, man sollte sie aktualisieren.

Übertragen wir die Forderung nach Aktualisierung alter Stücke einmal auf andere Gebiete der Kunst, bei denen man es ebenso mit alten bis sehr alten Werken zu tun hat.

Ein Roman etwa ist zu einer bestimmten Zeit geschrieben worden und spielt vielleicht in einer anderen. Und wenn dieser Roman heute wieder neu aufgelegt wird, dann wird er so herausgebracht, wie er damals geschrieben wurde. Gut, wenn er schon etwas älter ist, wird die Rechtschreibung etwas angepaßt, aber damit hat sich's auch schon. Kein Herausgeber käme auf die Idee, er müßte den Roman, um ihn dem heutigen Publikum näherzubringen, aus der Zeit, in der er spielt, herausnehmen. Man vertraut darauf - und zu Recht - daß der heutige Leser, so er kein Narr ist, auch aus einer alten Geschichte heute noch gültige Bezüge herauslesen werde.

Aber stellen wir es uns einmal vor, ein Übersetzer habe den "Don Quichote" ins Deutsche zu übertragen und er ließe den Roman, auf daß er dem heutigen deutschen Publikum aktuell erscheine, im Mecklenburg-Vorpommern der neunziger Jahre spielen, füge überdies - die Aktualisierung auf die Spitze zu treiben - Texte moderner Autoren in den Roman, dazu Auszüge aus der BILD-Zeitung.

Hm.

Damit eines klar ist: Auf diese Weise kann ein äußerst spannender und interessanter Text entstehen, aber... Ja klar, der "Don Quichote" von Cervantes ist es nicht mehr. Es ist ein neues Kunstwerk entstanden, eher lose mit dem alten Text von damals verbunden. Im Buchgewerbe ist es selbstverständlicher Brauch, daß man dann auch nicht "Don Quichote von Miguel Cervantes" draufschreibt, sondern etwa "Cervantes-Variationen von Hugo Blobbersich".

Ein ebenfalls reizvolles Gedankenspiel ist es, die Situation vom Theater weg in den Konzertsaal zu übertragen. Ein kreativer, genialer Dirigent etwa nähme sich ein Stück aus der Musikliteratur - sagen wir mal "Bilder einer Ausstellung" - und führte dieses Stück mit Schlagzeug, Synthesizer und E-Gitarre auf, kräftig mit Stil-Elementen aus der Rockmusik versetzt. Die feinsinnigen Musikfreunde (die häufig auch feinsinnige Theaterfreunde sind) würden aufjaulen.

Nun wissen wir natürlich, daß Emerson, Lake and Palmer genau das oben Geschilderte mit dem Stück von Mussorgsky getan haben und großen Erfolg damit gehabt haben. Womit mein Argument widerlegt wäre? Nein, denn der entscheidende Punkt dabei ist, daß ELP ihre Version des Stücks niemals als Aufführung eines Werkes von Mussorgsky ausgegeben haben. Es wurde immer als eigenständiges Kunstwerk gesehen, das sich in seinen Grundzügen an Mussorgsky anlehnte.

Würde der genialische Regisseur Hans Müller-Möhrenschneider sein Stück "Hamlet" (nach Motiven des Kollegen Shakespeare) aufführen, würde sich keiner, auch Daniel Kehlmann nicht, aufregen. Natürlich steht es jedem frei, sich in der Weltliteratur zu bedienen und vorhandene Stücke zu bearbeiten.

Ein bekannter Regisseur, der auch ein wenig als Dramatiker dilettierte, hat mehrere Stücke verstorbener Kollegen bearbeitet und aufgeführt, auf die Bühne gebracht hat er sie aber als seine Bearbeitungen von Stücken anderer. So penibel war Brecht, dem ansonsten ein eher entspanntes Verhältnis zu Fragen des geistigen Eigentums nachgesagt wird.

Das wirklich Ärgerliche am Regietheater ist doch nicht der Stil der Aufführungen, sondern der Etikettenschwindel, der damit verbunden ist. Hans Müller-Möhrenschneider bringt ein eigenes, locker am "Hamlet" des Shakespeare orientiertes Stück auf die Bühne, tut aber so, als würde er Shakespeare inszenieren. Er versteckt sich hinter Shakespeare, weil alle Shakespeare sehen wollen, kein Schwein aber sich für die Stücke von Hans Müller-Möhrenschneider interessiert.

Ich nehme die Hälfte der obigen Aussage wieder zurück. Doch, auch die Regieeinfälle so mancher Aufführungen sind ärgerl... nein, eher kindisch. Ich meine jetzt die Marotte, alte Stücke in der modernen Zeit spielen zu lassen. Wenn ich einen alten König in einen dunklen Anzug mit Krawatte stecke, dann verändere ich ihn radikal. Dann ist er kein alter König mehr, sondern ein neuzeitlicher Präsident oder Wirtschaftsboß oder was. Dann aber paßt der Text nicht mehr, den ihm der Klassiker zu sprechen vorgibt. Und mit "Text" meine ich nicht nur den Sprachduktus, sondern auch den Inhalt dessen, was er sagt. Ein Chef des 21. Jahrhunderts hat andere Ideen im Kopf als ein Chef des 10. Jahrhunderts. Wenn er etwas verschleiern will, etwas rechtfertigen will, greift er auf andere Verschleierungs- oder Rechtfertigungsmuster zurück. Vieles vom Vergangenen bleibt, manches aber nicht.

Viele Geschichten funktionieren nur in der Zeit, in der sie spielen. Man nehme nur den "König Ödipus" von Sophokles, dessen Geschichte nur in archaischer Zeit läuft, überall sonst ist sie lächerlich. Die Geschichte käme gar nicht ins Laufen ohne

- die tiefe, existentielle Orakelgläubigkeit, die ohne Scheu vor aller Welt präsentiert wird

- die engste Verbindung zwischen allgemeiner politischer Machtgeschichte und Familiengeschichte

- die Angst vor der durchaus wahrscheinlich und plausibel erscheinenden Ermordung durch den eigenen, noch ungeborenen Sohn

- die straflose, noch nicht mal verpönte Möglichkeit, den neugeborenen Sohn umbringen zu las­sen

- die Selbstverständlichkeit, mit der Iokaste als Siegespreis demjenigen winkt, der die Sphinx besiegt.

Die Frage bleibt, warum das Theater glaubt, nur mit immer neuen Regie-Einfälle über die Runden zu kommen. Ich habe den bösen Verdacht, es liegt daran, daß relativ wenige Leute regelmäßig ins Theater gehen. Dort werden - so groß ist das Repertoire gar nicht - immer die gleichen Stücke gespielt. Immer die gleichen Leute schauen sich also immer die gleichen Stücke an. Das wird auf Dauer langweilig und um die Langeweile zu vertreiben wird halt ein bisserl eine Show gemacht.

Zum Schluß noch eine Anmerkung zur vielbelächelten Formulierung Kehlmanns, es solle der Regisseur der Diener des Autors sein. Die beeindruckendsten Theateraufführungen waren für mich jene, bei denen der Gedanke, daß es da wohl auch einen Regisseur gegeben haben müsse, gar nicht erst auftaucht. So wenig übrigens wie der Gedanke, daß das Stück wohl einer geschrieben haben muß. Anspringen tun dich erstmal nur die Schauspieler auf der Bühne.

Im Fernsehen habe ich mal eine Inszenierung des "Jedermann", den ich nie gelesen habe, gesehen. Salzburger Festspiele, natürlich, Regie Istvan Szabo, mit Brandauer, Hoppe etc. Ich war begeistert. Nach nüchterner Überlegung am Ende der Aufführung dachte ich mir: "Was für ein Scheißstück! Was für eine Holzhammerdramaturgie mit dem moralischen Zeigefinger!" (und dieses ewige, lächerlich altertümelnde "nit") Aber: "Was für eine Aufführung!" Ein absolut phantastisches Team hat es geschafft, aus einem Haufen Knochen ein prächtiges Schnitzerl zu zaubern (in durchaus konventionellem Inszenierungsstil übrigens).

2 Kommentare:

  1. Vielen Dank.
    Sie haben mir aus dem herzen gesprochen - eine der wenigen reaktionen im Netz auf die Rede von Herrn Kehlmann, die den Inhalt dieser Rede als Ausgangspunkt wählen.
    Vor vielen Jahren sah ich eine Aufführung des "Nathan" (mit W. Dehler, R. Hoppe und H.-J. Weber). In einem sehr sparsamen und zurückhaltenden Bühnenbild war die Aufmerksamkeit lediglich auf die Schauspieler gerichtet - auch dies eine eher "konservative" Inszenierung. Trotzdem - oder vielleicht gerade deshalb - hatte man keinen Augenblick das Gefühl, das Stück bedürfe einer Aktualisierung.
    Nachdem ich in den folgenden Jahren allerdings komplett andere Inszenierungen ertragen habe, verzichte ich zu meinem bedauern auf Theaterbesuche.
    Wollen wir hoffen, dass der Trend, alten Kitsch durch neuen kitsch abzulösen, bald ein Ende findet.

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  2. Danke für das Kompliment.

    Mich hat beim Stöbern im Netz auch diese Oberflächlichkeit überrascht, mit der man auf diese Rede reagiert hat - und zwar sowohl bei denen, die sie begrüßten als auch bei denen, die sie kritisierten. Bei den namenlosen Bloggern oder Kommentarschreibern wäre das noch nicht so ganz verwunderlich gewesen, aber selbst die professionellen Kulturschreiber der großen Medien vermochten oder wollten kaum etwas Substantielles bringen.

    Das mit der Aktualisierung ist eh so eine Sache. Wenn uns der Text eines Stückes nicht mehr anspricht, dann retten ihn irgendwelche Trallala-Mätzchen auch nicht mehr und wenn der Text selber noch aktuell ist, dann braucht es diese Mätzchen nicht.

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