Montag, 26. Juli 2021

Der Mensch an der Siedlungsgrenze

Mein erstes und womöglich einziges Erweckungserlebnis hatte ich an der Volksschule Gern. Die Volksschule Gern war eine vierklassige Volksschule, jeweils zwei Jahrgänge wurden zusammen in einer Klasse unterrichtet.

Die Volksschule Gern gibt es längst nicht mehr, so wenig wie es die Gemeinde Gern noch gibt. Früher, als die Welt zwar auch nicht mehr gut, aber doch besser war, gab es dagegen sogar zwei Gerns. Die Gemeinde Gern I bestand aus vier Ortschaften, im Jahr 1961 hatte die Gemeinde 861 Einwohner und eine Fläche von 222,4 Hektar. Gern II, die ländliche Version von Gern, bestand aus 21 (!) Orten, im Jahr 1961 hatte die Gemeinde 252 (!) Einwohner und eine Fläche von 482,48 (!) Hektar. Der Gemeindesitz war zu dieser Zeit in Oberdax, damals hatte fast jeder Einödhof seinen eigenen Bürgermeister. Im Zuge der Gebietsreform in Bayern wurde die Gemeinde 1972 aufgelöst und in die Gemeinden Eggenfelden und Hebertsfelden eingegliedert.

Aber, klar, kein Schwein interessiert sich heute noch für die weiland Gemeinden Gern I und II, es hat sich schon damals kein Schwanz außerhalb von Gern I und II für Gern I und Gern II interessiert.

Warum ich dennoch davon erzähle liegt daran, daß irgendwann das Fräulein Treml krank wurde und der Rektor ihretwegen zwei Vertretungsstunden in unserer Klasse hatte. Der Rektor war normalerweise in der 7. und 8. Klasse zugange und hatte vermutlich deswegen keinen Plan, was er uns in der 3. und 4. Klasse hätte erzählen können. Er stellte zwei Tische zusammen, nahm die Schiefertafel aus dem Gestell und legte sie waagrecht auf die Tische. Er nahm weiße und bunte Tafelkreiden und kerbte mit seinem scharfen Taschenmesser die Spitzen jeweils so ein, so daß er jetzt mit einer einzigen Bewegung zwei parallellaufende Striche hinzeichnen konnte.

Er nahm die weiße Kreide und zog ei­nen Doppel­strich quer über die liegende Ta­fel. Das, meinte er, solle die durch den Ortskern von Gern führende Straße dar­stellen. Dann setzte er ein rotes Viereck auf die Tafel, direkt an die Straße grenzend und sagte, das solle das Schulhaus sein, in dem wir uns grade befänden. Wir nick­ten verständig und er fragte uns, welche Straßen und Bäche und sonstige Dinge wir noch kennten. Er trug die­se Dinge dann in den all­mählich ent­ste­henden Ortsplan ein und so ent­stand vor un­seren Augen ei­ne Landkarte unserer unmittelbaren Umgebung. Nachhaltig beeindruckt hat mich, daß ich die Entstehung des Ortsplans miterleben durfte, der Zusammenhang zwischen der Welt und dem Bild von ihr hat sich mir unmittelbar erschlossen. Was für ein Lernerfolg!

Von da an war ich Landkarten und Stadtplänen verfallen. Auf der Couch liegend lernte ich die ganze Welt - oder doch einen erheblichen Teil von ihr - kennen. Es erschien mir unnötig, die Welt zu bereisen, es erscheint mir dies noch heute. Zu viele Globetrotter habe ich getroffen, die von Tuten und Blasen [1] keine Ahnung hatten, welche von den bereisten Ländern nur den touristenüblichen Unfug wußten.

1958, ich war 8 Jahre alt, war die Fußballweltmeisterschaft in Schweden, Weltmeister wurde Brasilien und der Stern von Pelè ging auf. Mit Begeisterung schwadronierte ich vor den Stammgästen im Lokal von Brasilien. Diese Stammgäste meinten, ich solle doch nicht so daherreden, ich wüßte doch nicht mal, wo dieses Brasilien liege. Und ich erzählte ihnen von Brasilien und seiner Lage in Südamerika, dort spräche man Portugiesisch, anders als im übrigen Lateinamerika.  

Abends machte ich gerne ausgedehnte Reisen. Ich hatte damals ein Motorboot mit einer kugelsicheren Plexiglashalbkugel. Weder die Giftpfeile der Eingeborenen konnten mir etwas anhaben, noch die Gewehrkugeln irgendwelcher Schurken. Eine Klimaanlage schützte mich vor der Hitze der Tropen und der Kälte der Eisregionen. Mit dem Boot konnte ich wie ein Auto auf dem Land fahren, ja sogar fliegen und tauchen. Ich weiß noch, wie ich vom Meer aus in den Amazonas einfuhr und dann gemächlich den Strom emportuckerte. Wurde ich müde, legte ich mich schlafen, ich war ja geschützt, nichts und niemand konnte mir etwas anhaben.

Warum sollte ich mich den Gefahren des Dschungels und des Hochgebirges aussetzen, Malaria und Frostbeulen erdulden, wenn es genug Narren gab, die dies schon vor mir getan hatten und mir gerne davon in Wort und Bild erzählen möchten? "Warum sich einen Hund halten und dann selber bellen?" hatte es Hercule Poirot auf den Punkt gebracht.

Auf dem Gymnasium hatten wir den Diercke-Weltatlas, dort gab es eine Reihe exemplarischer Detailkarten diverser Weltgegenden. Eine der Karten trug den Titel "Der Mensch an der Siedlungsgrenze", sie zeigte eine Estancia im argentinischen Teil von Feuerland. Das Klima ist auf Feuerland dermaßen rauh, daß dort kein wirtschaftlicher Anbau von Getreide, Gemüse etc. möglich ist, sondern lediglich Viehzucht. Das Wohnhaus samt Wirtschaftsgebäuden war eingezeichnet, selbst die Weidezäune. Ich liebe solche Detailpläne, wie gesagt.

Feuerland, das Land an der Siedlungsgrenze, liegt auf 54° südlicher Breite. Bei 54° nördlicher Breite landen wir in Schleswig-Holstein, nahe der dänischen Grenze. Forscher, die Schleswig-Holstein bereist haben, berichten, dort gäbe es durchaus Landwirtschaft. Und nördlich von Schleswig-Holstein liegt noch ganz Skandinavien. Das alles hat der Golfstrom gemacht.



[1]    Wußten Sie schon, daß Urologen zwar keine Ahnung von Tuten haben, umso mehr aber von Blasen?

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