Dienstag, 17. September 2019

Die Wahrheit als Panne

Das Volk ist in der Demokratie der Empfänger von Macht, nicht ihr Ursprung

Was Wahrheit letztendlich und eigentlich ist, ob es überhaupt eine gibt und wenn ja, ob wir diese je erkennen können, und - falls wiederum ja - wie diese Wahrheit nun genau aussieht - darüber haben sich Generationen von Philosophen Gedanken gemacht. Eine Lösung hat bislang noch keiner gefunden, offensichtlicherweise denn hätte es einer, so gäbe es nur noch 1 Philosophie, und zwar die richtige.
Nach langem Grübeln über das Leben, das Universum und den ganzen Rest bin ich für mich zu dem Ergebnis gekommen, daß wir niemals hinter die Wahrheit kommen werden und daß das auch ganz gut ist. Ich bin zum Anhänger des Jameiismus geworden, welcher besagt: Ja mei, da kannst nix machen, es is halt wie's is.

Wahrheit

Daß die Frage nach der Wahrheit immer noch unbeantwortet ist, sollte niemanden mehr freuen als die Philosophen selber. Die ewige Suche nach der Wahrheit ist für einen berufsmäßigen Philosophen nämlich ein wesentlich günstigeres Geschäftsmodell als ihr Finden. Käme tatsächlich einer dahinter, woher wir kommen, wohin wir gehen und welcher Sinn in dem Schlamassel dazwischen steckt, und könnte er zudem seine Antwort auch stichhaltig und unwiderleglich beweisen, so wäre die Luft aus aller Philosophie und Theologie heraus.
Aus, Äpfel, Amen. "Laden zu vermieten - Wegen mangelnder Nachfrage mußten wir die Firma 'Sein & Nichts GbR - Sinn en gros und en detail' leider schließen."
Wer über ein bisserl Lebenserfahrung verfügt, weiß natürlich, daß meine Schlußfolgerung Unsinn ist. So klar und eindeutig kann eine Antwort gar nicht sein, daß sich nicht doch Leute fänden, die nach der Antwort hinter der Antwort suchen.
Douglas Adams hat sich in "Per Anhalter durch die Galaxis" [1]  mit seiner Episode vom Computer Deep Thought über die Sinnsucher lustig gemacht. Nach einer Rechenzeit von 7,5 Millionen Jahren liefert der Supercomputer die Antwort: 42. Diese Antwort aber, so verkündet der Computer, bleibe sinnlos, solange man nicht die dazu passende Frage genau formuliert habe. Im weiteren Verlauf des Romans kommt der Held des Romans zufällig hinter die passende Frage: "Wie viel ist neun multipliziert mit sechs?". Wer das kleine Einmaleins noch im Kopf hat, dem wird auffallen, daß die Frage nicht zur Antwort paßt. Klar, Adams macht sich über die Sinnsucher lustig.
Und was passiert? Adams hätte es sich absurder nicht ausdenken können: Rudel von Sinnsuchern versuchen, hinter das Geheimnis der von Adams formulierten Lösung 42 zu kommen. Sie bemühen Lewis Carroll [2], das 13er-Zahlensystem, die Weisheit tibetischer Mönche etc., um auf die Spur eines bewußt formulierten Unsinns zu kommen. Adams selbst merkt dazu an: "Die Antwort darauf ist ganz einfach. Es war ein Scherz. Es musste eine Zahl sein, eine gewöhnliche, relativ kleine Zahl, und ich entschied mich für diese. Binäre Darstellungen, Basis 13, Tibetische Mönche, das ist alles kompletter Unsinn. Ich saß an meinem Schreibtisch, blickte in den Garten hinaus und dachte ‚42 wird gehen‘. Ich schrieb es hin. Ende der Geschichte." Dem wahren Sinnsucher jedoch ist klar, daß das nur ein Täuschungsmanöver von Adams sein kann, eine Finte, um die eigentliche Wahrheit zu schützen.
Was lernen wir daraus? Wer bekannt genug ist, um überhaupt wahrgenommen zu werden, der kann sagen und schreiben, was er will, er kann sogar ausdrücklich hinzufügen, daß all das, was er geschrieben habe, ein übermütiger Scherz gewesen sei - es nützt nichts. Einer hermeneutelt immer.

Gauweiler

Aber, Leute, ich habe mich verschwatzt. Eigentlich nämlich wollte ich von Peter Gauweiler erzählen, der einmal aus Versehen die Wahrheit gesagt hat.
Um die Jahrtausendwende hatte die CDU/CSU mit einer der üblichen, routinemäßigen Finanz- und Spendenaffären zu kämpfen. Im Januar 2000 hat Peter Gauweiler der Passauer Neuen Presse dazu ein Interview gegeben.
Dabei ist ihm ein Satz entschlüpft, den der zuständige Redakteur für so wichtig hielt, daß er ihn als Überschrift zum Interview wählte:
"Wir müssen dem Volk wieder mehr Macht geben."
In diesem kleinen Satz eines Menschen, der etwas von Macht versteht, ist die ganze Wahrheit über die politische Realität der Bundesrepublik Deutschland enthalten.
Im Grundgesetz findet sich der lakonische Satz: "Alle Staatsgewalt geht vom Volke aus." Der Dichter Bertolt Brecht hat diesen Satz einmal um eine Frage ergänzt: "Wo aber geht sie hin?"
Zu Peter Gauweiler und seinen Freunden in Politik und Wirtschaft geht sie hin. Das wissen wir zwar schon lange, aber die Mächtigen in diesem Lande blasen normalerweise empört die Backen auf, wenn einer dergleichen behauptet. Sie verdächtigen ihn, er wolle eine andere Republik, eine andere Demokratie und natürlich haben sie recht mit diesem Verdacht. Nun aber hat einer aus dem Inneren Zirkel der Macht sein Nähkästchen geöffnet und uns plaudernd bestätigt, was wir bereits wissen.
Denn eines ist klar: Nur wer die Macht hat, kann ein Stückchen davon dem Volk abgeben.
Ich habe damals einen Leserbrief an die Passauer Neue Presse geschrieben, der Leserbrief wurde nicht abgedruckt (sie haben damals die meisten meiner Leserbriefe abgedruckt, das nebenbei). Und einen Internetanschluß hatte ich seinerzeit noch nicht. Denn das Internet vermag, recht genutzt, einiges in Bewegung zu bringen, was sonst unbeweglich geblieben wäre.

Köhler

Als seinerzeit Bundespräsident Köhler in einem Rundfunk-Interview ein streng gehütetes Staatsgeheimnis ausplauderte, wurde er unverzüglich aus dem Amt gemobbt. Das Staatsgeheimnis war, daß Deutschland nicht wegen der Menschenrechte in Afghanistan Krieg führt, sondern in Wirklichkeit zur Wahrung seiner wirtschaftlichen Interessen:
"Meine Einschätzung ist aber, daß insgesamt wir auf dem Wege sind, doch auch in der Breite der Gesellschaft zu verstehen, daß ein Land unserer Größe mit dieser Außenhandelsorientierung und damit auch Außenhandelsabhängigkeit auch wissen muß, daß im Zweifel, im Notfall auch militärischer Einsatz notwendig ist, um unsere Interessen zu wahren, zum Beispiel freie Handelswege, zum Beispiel ganze regionale Instabilitäten zu verhindern, die mit Sicherheit dann auch auf unsere Chancen zurückschlagen negativ, bei uns durch Handel Arbeitsplätze und Einkommen zu sichern."
Dieses Geheimnis kennt zwar jeder, der sich fünf Minuten Zeit nimmt, drüber nachzudenken, aber unter Politikern war (und ist) es strengster Komment, darüber nicht öffentlich zu sprechen.
Köhler hatte ein Tabu gebrochen, er hatte die große Lebenslüge bundesdeutscher Außenpolitik in die allgemeine Diskussion gezerrt. Der Skandal war nicht, daß er etwas Falsches gesagt hätte, er hat im Gegenteil etwas sehr, sehr Richtiges ausgesprochen, was aus Sicht der politischen Klasse besser ungesagt geblieben wäre.
Ich darf an dieser Stelle an das bekannte Wort von George Bernard Shaw erinnern: "Die Lebenserfahrung, diese Wissenschaft nach Hausmacher-Art, lehrt die von ihr Befallenen, daß es nicht die gänzlich neuen, für alle völlig überraschenden Nachrichten und Erkenntnisse sind, die aufgeregten Wirbel verursachen. Verblüffende Neuigkeiten machen uns allenfalls staunen, wirkliche und nachhaltige Empörung hingegen lösen jene Tatsachen aus, die jedermann längst bekannt sind, die lediglich von irgend jemandem irgendwann einmal ausgesprochen werden."
Wobei der Verplapperer von Köhler zunächst mal gar keine Empörung, noch nicht mal Wirbel verursacht hat. Keiner von den bekannten oder weniger bekannten Kommentatoren in den großen oder weniger großen Zeitungen oder Rundfunkanstalten hat sich darüber aufgeregt oder die Aussage auch nur erwähnt. In den Medien wurden die Äußerungen Köhlers nicht weiter beachtet, man könnte auch sagen, sie wurden totgeschwiegen. Das ging so weit, daß der Deutschlandfunk, der das entsprechende Interview gesendet hatte, auf seiner Website zunächst eine komplette Version des gesendeten Interviews brachte, nach einigen Stunden jedoch war an dieser Stelle eine geschnittene Fassung des Interviews zu hören, in welcher der brisante Satz fehlte!
Lediglich im Internet haben einige Blogger das Thema aufgegriffen und die Leute auf diese Äußerung aufmerksam gemacht. Erst als im Netz die Wogen so hoch schlugen, daß man sie nicht mehr ignorieren konnte, griffen auch die Medien die Geschichte auf.
Man hat die Affäre sehr geschickt gelöst, indem man Köhler zum Rücktritt veranlaßte. Durch seinen Rücktritt wurde viel über den Rücktritt und das durch die Kritik an Köhler angeblich beschädigte Amt gesprochen. Das eigentlich Interessante an dieser Geschichte, der Satz nämlich, der letztlich zum Rücktritt geführt hatte, wurde dadurch überwirbelt und unsichtbar gemacht und war nach anderthalb Jahren bereits so gut wie vergessen.
Was man aus den Geschichten um Peter Gauweiler und Horst Köhler lernen kann? Ich glaube, es war Hercule Poirot, der einmal sinngemäß sagte, wenn man sich mit den Leuten lange genug unterhalte, sie einfach plaudern lasse und ihnen aufmerksam zuhöre, dann komme man hinter ihre verborgenen Geheimnisse. Irgendwann verplappere sich jeder.

Afghanistan

Um auf Afghanistan und die wirtschaftlichen Interessen zurückzukommen... Im Juni 2010 war es in allen Zeitungen zu lesen: "Ein US-Team von Geologen und Mitarbeitern des Verteidigungsministeriums (!; Ausrufezeichen von mir, W. H.) will Rohstoffvorkommen im Wert von fast einer Billion Dollar in Afghanistan aufgespürt haben. (...) Es gehe um Lithium, Eisen, Kupfer und Gold, zitiert die Zeitung hochrangige US-Beamte.
In einem internen Papier des Verteidigungsministeriums heißt es demnach sogar, Lithium könne für Afghanistan das werden, was Erdöl für Saudi-Arabien bedeutet."
Die Meldung, die uns suggerierte, es sei dies ein brandaktuelles Forschungsergebnis, wurde einige Tage lang durch das Mediendorf getrieben, dann war Ruhe. Einige Sekunden lang hat der Große Zauberkünstler aus Washington seine Karten gezeigt, dann hat er mit dem Finger geschnipst und hypnotischer Schlaf hat die weltweit verbreitete Meldung wieder aus dem Gedächtnis der Welt gelöscht. David Copperfield ist im Vergleich dazu ein Anfänger.
Und es ist nicht das erste Mal, daß diese hochbrisante Meldung dem Vergessen anheim fiel. Bereits am 13. 10. 2001 - einen guten Monat nach 9/11 - schrieb Hubertus Erb in heise.de diesen Artikel:
Vor einigen Jahren hat man darüber gestritten, ob es sich beim Kuddelmuddel in Afghanistan um Krieg oder um "kriegsähnliche Zustände" handelte. Dabei waren die kriegsähnlichen Zustände in Afghanistan, in welche die Bundeswehr eingegriffen hat, bereits ganz offiziell ein Krieg, als noch Franz-Josef Jung Verteidigungsminister war. Damals hat Georg Schramm auf ein Pressephoto hingewiesen, auf dem zu sehen war, wie Angela Merkel einem Soldaten einen Orden an die Brust heftete. Georg Schramm, gelernter Psychologe, war etliche Jahre Berufssoldat [3] und er merkte an, daß militärische Orden durch den jeweiligen Oberbefehlshaber verliehen werden. In Friedenszeiten ist das der Verteidigungsminister, im Verteidigungsfall (vulgo: Kriegsfall) ist dies der Bundeskanzler.
Ist der Verteidigungsfall eingetreten, gibt es solange keine Bundestagswahlen mehr, bis der Krieg zu ende ist.

Um zum Schluß noch einmal auf die Wahrheit als solche zurückzukommen:
"Meine Herren, es hat zu allen Zeiten Völker gegeben, die an einen Gott glauben, und es hat zu allen Zeiten Völker gegeben, die an keinen Gott glauben. Die Wahrheit wird, wie immer, in der Mitte liegen." (THEODOR FONTANE)



[1]   Die einzige vierteilige Trilogie in fünf Bänden der Literaturgeschichte.
[2]   Lewis Carroll ist der Verfasser von "Alice im Wunderland" und war im Zivilberuf Mathematiker.
[3]   Er war Jahrgangsbester bei den Einzelkämpfern.

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