Mittwoch, 29. März 2017

Würde und Lichtbildnerei

Wer fotografiert muß damit rechnen fotografiert zu werden. Wer nicht fotografiert, muß auch damit rechnen, so ist es nicht.
An dieser Stelle bekomme ich feuchte Augen, weil ich an meine verflossene Jugend zurückdenken muß.
Vor langer, langer Zeit gab es nämlich mal eine Zeit, da ich regelmäßig "DIE ZEIT" las. Die Reisebeilage habe ich selbst damals nur rasch überblättert, bei obigem Bild aber bin ich schon beim Blättern hängengeblieben, das Bild ist in mein Ausschnitt-Archiv gewandert.
Dem zuständigen Redakteur schien das Bild nicht mehr bedeutet zu haben, als eine kleine Kuriosität am Rande, das legt die eher harm­los spöt­teln­de Unterzeile nahe:
"Je pittoresker, desto besser: Touristen in Tibet".
Der Mann ist vielleicht ein tibetischer Mönch, wahrscheinlich aber ganz einfach ein al­ter Tibeter in der landesüblichen Tracht. Er muß sich die kleine Steigung des Weges recht mühsam hoch kämpfen, tut dies aber auf eine ruhige Weise, die ihn zwar lang­sam aber eben doch vorankommen läßt. In der linken Hand hält er eine Ge­betsmühle, gewohnheitsmäßig, wie zu vermuten ist. Jedenfalls macht er das, was immer er macht, mit großer Ruhe und bewundernswerter Würde.
Und dann die beiden fotografierenden, filmenden Touristen, die den alten Mann gestellt haben wie ein zu jagendes Wild. Die sich vor ihn hin­stellen und ihm die Kameras vor Gesicht halten, als wäre er nichts an­deres als eine Hausfassade oder ein interessantes Detail an einem Brun­nen.
Ein absolut schamloses, obszönes Bild. So was würde sich das Paar zuhause nie und nimmer trauen.
Obwohl... Das Bild ist aus den siebziger Jahren [1], mein Kommentar ebenfalls. Damals gab es noch keine Telefone, mit denen man auch fotografieren oder gar filmen konnte. Damals, liebe Kinder, galt es als wahn - sin - nig unschicklich [2], einen anderen Menschen zu fotografieren, ohne ihn zuvor gefragt zu haben.
Um noch mal auf den alten Tibeter zurückzukommen: Ich bin sonst ein wenig allergisch gegen das Wort "Würde", es ist gar zu abgelutscht und viel zu oft mißbraucht worden. Hier erscheint es mir angebracht:
Geschändete Würde.



[1]   Man beachte die Schmalfilmkamera des Mannes. Die jüngeren unter uns kennen vermutlich nicht mal mehr das Wort "Schmalfilmkamera", außer sie arbeiten zufälligerweise im "Museum für Kulturgeschichte der Neuzeit" in Würselen.
[2]   Wer von euch, liebe Kinder, kennt noch das Wort "unschicklich"?

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