Dienstag, 25. Juni 2013

Kaspar Hauser + 17. 12. 1833

Eine Fußnote zur Weltgeschichte

Vor fast 180 Jahren, am 17. 12. 1833, erlag Kaspar Hauser, Findling von Beruf, in Ansbach den Verletzungen, die ihm drei Tage zuvor bei einem Messerattentat im ansbachischen Hofgarten zugefügt worden waren.

Mein Name ist Hauser, ich weiß von nichts


Fünfeinhalb Jahre zuvor, am 26. 5. 1828, ist besagter Kaspar Hauser vom Licht dieser Welt erblickt worden, dergestalt nämlich, daß er Gegenstand eines amtlichen Aktenvermerkes wurde; eine Aufmerksamkeit, welche dem damals ca. 16 Jahre alten Halbwüchsigen niemals zuvor zuteil geworden war.
File:Kaspar hauser.jpg
Der sechsundzwanzigste Mai des Jahres Achtzehn­hun­dert­achtundzwanzig war ein wunderschöner Frühlingstag und Pfingstmontag dazu. Welche beiden Umstände dazu führten, daß die weiland Freie Reichsstadt Nürnberg - eine im Verhältnis zu ihrer damaligen Bevölkerung (ca. 30.000 Einwohner) ohnehin sehr weitläufige Stadt - am Nachmittag recht wundersam still und menschenleer war, allweil der große Teil der Einwohner auf das Land und in die umliegenden Ortschaften sich zerstreute.
An diesem faulen Feiertagsnachmittag - so gegen 16.00 Uhr - tritt eine merkwürdige Gestalt auf zwei Nürnberger Schuhmachermeister zu, die am Unschlittplatz - unweit der Pegnitz und der westlichen Stadtmauer gelegen - einen müßigen Plausch halten, und spricht sie an. Wobei "treten" und "sprechen", genau besehen, schon zuviel gesagt ist. In "höchst auffallender Haltung des Körpers" vielmehr stand der Ankömmling da und mühte sich, einem Betrunkenen ähnlich, zu gehen, ohne dabei aber seine Füße in der üblichen Zweibeinerweise regieren zu können. Die beiden Handwerker gehen der merkwürdigen Gestalt entgegen, welche ihnen einen versiegelten Brief entgegenhält und etwas brabbelt von "Neu-Tor" und "A söchtener Reiter möcht i wähn, wia mei Votta wähn is". Auf Fragen antwortet er mit "woaß nit", "hamweisen" und den bereits genannten Worten. Auch greift er einzelne Worte aus der Rede der Schuster auf und plappert sie in mehrfachen Wiederholungen nach. Mehr ist aus dem seltsamen Vogel vorerst nicht rauszubringen, so daß man ihn zur Torwache an besagtem Neu-Tor geleitet. Auch dort wird man mit diesem Fall nicht recht glücklich. Der versiegelte Brief - soviel stellt man fest - ist adressiert "An Tit. Hr. Wohlgebohner Rittmeister bey der 4ten Esgataron (Eskadron) bey 6ten Schwolische (Cheveaulègers = leichte Kavallerie) Regiment in Nierberg". Nachdem man den Unbekannten eine Zeitlang vergeblich zu verhören versucht hat, schickt man ihn zu besagtem Rittmeister, einem Freiherrn von Wessenig, welcher ganz in der Nähe des Neuen Tores wohnt. Der öffnet den Brief und findet darin folgenden, in gotischer Frakturschrift verfaßten Text:
                   Von der Bäiernschen Gränz
                  Daß Orte ist unbenannt
1828

    Hochwohlgebohner Hr. Rittmeister!
 Ich schücke ihner ein Knaben der möchte seinen König getreu dienen
   Verlangte Er, dieser Knabe ist mir gelegt worden. 1812 den 7. Ocktober, und ich selber ein armer Taglöhner, ich Habe auch selber 10 Kinder, ich habe selber genug zu thun, daß ich mich fortbringe, und seine Mutter hat mir um Die erziehung daß Kind gelegt, aber ich habe sein Mutter nicht erfragen Könen, jetz habe ich auch nichts gesagt, daß mir der Knabe gelegt ist worden, auf den Landgericht. Ich habe mir gedenckt ich müßte ihm für mein Sohn haben, ich habe ihm Christlichen Erzogen, und habe ihm Zeit 1812 Keinen Schrit weit aus dem Haus gelaßen daß kein Mensch nicht weiß da von wo Er auferzogen ist worden und Er selber weiß nichts wie mein Hauß Heißt und daß ort weiß er auch micht, sie derfen ihm schon fragen er kan es aber nicht sagen, daß lessen und schreiben Habe ich ihm schon gelehrte er kan auch mein Schrift schreiben wie ich schreibe, und wan wir ihm fragen was er werde so sagte er will auch ein Schwolische werden waß sein Vater gewessen ist. Will er auch werden, wer er Eltern häte wir er keine hate wer er ein gelehrte bursche worden. Sie derfen im nur was zeigen so kan er es schon. Ich habe im nur bis Neumark geweißt da hat erselber zu ihnen hingehen müßen ich habe zu ihm gesagt wen er einmal ein Soldat ist, kome ich gleich und suche ihm Heim sonst häte ich mich Von mein Hals gebracht
Bester Hr. Rittmeister sie derfen ihm gar nicht tragtiren er weiß mein Orte nicht wo ich bin, ich habe im mitten bei der nacht fort gefürth er weiß nicht mehr zu Hauß.
Ich empfehle mich gehorsamst
Ich mache meinen Namen nicht
Kuntbar den ich Konte gestraft
werden
Und er hat Kein Kreuzer geld nicht bey ihm weil ich selber nichts habe wen Sie im nicht Kalten so müßten Sie im abschlagen oder in Raufang auf henggen
Diesem Brief des Aussetzers beigelegt ist ein Zettel, auf welchem in lateinischer Schrift zu lesen steht:
   Das
Kind ist schon getauft
sie Heist Kaspar in Schreib
name misen sie im selber
geben das Kind möchten
Sie auf Zihen sein Vater
ist ein Schwolische gewesen
wen er 17 Jahr alt ist so
schicken sie im nach Nirnberg
zu 6ten Schwolische
Regiment da ist auch sein
Vater gewesen ich bitte um
die erzikung bis 17 Jahre
gebohren ist er am 30 Aperil
1812 im Jaher ich bin ein
armes Mägdlein ich kan
das Kind nicht ernehren
sein Vater ist gestorben

Eine rührende Story mit Haken


Eine rührende Story, welche die beiden Briefe hier erzählen. Da ist ein armes Mägdlein von einem Soldaten geschwängert worden, welcher alsbald starb und die ledige Mutter hilflos mit dem Kind zurückließ. In ihrer Not legt das Mägdlein einem nicht minder armen Taglöhner das Kind vor die Tür. Dieser - ein zehnfacher Vater, den die Not selber arg bedrängt - nimmt das Kind tatsächlich auf, zieht es groß, verheimlicht seine Existenz aber vor den Behörden und vor den Nachbarn, läßt es all die langen Jahre eingesperrt im Haus, bringt es nunmehr in die menschliche Gesellschaft zurück.
Noch ehe man von Kaspar Näheres über die Umstände seines Vorlebens erfahren kann, machen die Schriftstücke stutzig. Zum einen ist die Handschrift beider Botschaften - wenngleich in verschiedenen Schriftarten verfaßt - einander recht ähnlich. Später gemachte graphologische Gutachten erhärten diesen Verdacht. Das Papier ist von gleicher Beschaffenheit bei beiden Schriftstücken, vom äußeren Eindruck her ist es auch die gleiche Tinte (chemische Analysen wurden damals natürlich nicht gemacht; heute sind uns nicht mehr die Originale, sondern lediglich - angeblich gut gemachte - Faksimile-Kopien erhalten). Der Mägdleinszettel, der von sich behauptet, 1812 verfaßt und dem Baby beigegeben worden zu sein, war mitnichten vergilbt, vielmehr kaum älter als der eigentliche Brief. Zudem war dieser Zettel in lateinischer Schrift abgefaßt, einer Schrift also, welche damals in den Volksschulen gar nicht gelehrt wurde. Die übliche Schrift war noch die gotische Fraktur der Luther-Zeit (nicht, wie oft angenommen wird, die eckige Sütterlin-Schrift, welche noch unsere Eltern und Großeltern lernten. Ludwig Sütterlin, 1865 - 1917, erfand seine Schrift erst sehr viel später). Überdies lag 1812 das 6. Cheveaulègers-Regiment noch nicht in Nürnberg.
Der Hochwohlgebohne Hr. Rittmeister jedenfalls dürfte froh gewesen sein, daß es auch damals schon zuständige Behörden gab, denen man das Rätselkind andrehen konnte, die sich um eine - wie immer geartete - Weiterverfolgung des Falles nicht herumdrücken konnten.

Gepflegter Körper mit Impfnarbe


Kaspar landete also auf dem Polizeirevier, allwo man das Verhör der Neu-Tor-Wache wiederholte und fortsetzte. Was man zu hören bekommt, sind die bereits bekannten Worte und Satzteile, ergänzt durch Echolalien (Wortwiederholungen) ab und zu. Bedrängt man ihn, weint er, weist auch auf seine schmerzenden Füße. Gibt man ihm eine Münze zum Spielen, wird Freude erkennbar, ruft er "Roß! Roß!" Aus der willkürlichen, zufälligen Art seines Wortgebrauches läßt sich erschließen - und spätere Äußerungen Hausers stützen diese Annahme -, daß er mit den Worten keinen Sinn verbindet, daß er Geräusche in Wortform produziert, nach Art eines Papageis. Furcht, Befremden oder Verlegenheit zeigt er nicht, macht vielmehr einen äußerst stumpfen, blödsinnigen Eindruck. Als man ihm ein Glas Bier und ein Stück Fleisch anbietet, weist er dies mit Zeichen größten Abscheus von sich, ißt dann aber mit großem Appetit trocken Brot, trinkt frisches Wasser. Als man ihm - weil der Brief ja behauptet hatte, der Knabe könne schreiben - Feder, Tinte und Papier vorlegt, nimmt er die Feder recht geschickt in die Hand und schreibt in festen, leserlichen Zügen einen Namen:
KASPAR HAUSER
Dieses Schreiben aber - wiewohl recht geschickt und ordentlich - geschieht in der Manier eines mechanischen Automaten. Verstanden hat Kaspar das, was er da schrieb, offensichtlich nicht.
Seine Kleidung war nicht besonders gut, nicht mal nach damaligen Begriffen (Kleidung war damals - als der mechanische Webstuhl seine Karriere in Deutschland gerade erst begann - eine Kostbarkeit, selbst für Wohlhabende). Sein Körper aber war bei seiner Ankunft in Nürnberg reinlich und gepflegt gewesen; keineswegs verwahrlost, wie oft zu lesen steht oder in Werner Herzogs Hauser-Film zu sehen ist. Er war damals ca. 1,45 m groß und wog etwas 140 Pfund, wird auch als "sehr wohl beleibt" beschrieben. An beiden Oberarmen sind deutlich die Narben einer Pockenschutzimpfung erkennbar. Ein ausgesprochen interessanter Umstand, wenn man in Rücksicht stellt, daß die Pockenschutzimpfung erst 1796 erfunden worden war, daß sie lange Zeit noch freiwillig und kostenpflichtig und also den höheren Ständen vorbehalten war.
Wie selbst aus der Niederschrift noch zu erkennen ist, sprach Kaspar die wenigen wirren Worte in altbairischem Dialekt. Aus welchem Umstand man aber keine weitgehenden Schlüsse ziehen darf. Die Akten der ersten Hauser-Zeit sind äußerst schlampig und nachlässig geführt worden (wie schon Anselm von Feuerbach, Präsident des Appellationsgerichtes in Ansbach und also vom Fach, rügte). Was genau der neuangekommene Merkwürdling sagte, wird niemals mehr zu rekonstruieren sein. In den ersten Wochen nach seiner Ankunft aber wurde er in der Familie des Gefängniswärters Hiltel betreut, dessen Frau altbayerischen Dialekt sprach. Hier erst mag sich Kaspar dialektmäßig infiziert haben.
Außer dem Brief trug Kaspar noch ein Gebetbuch bei sich, einen Rosenkranz, einen Schlüssel, ein gefaltetes Papier mit einer geringen Menge Goldsand (das aber auch gestoßenes Opium gewesen sein könnte) und eine Menge religiöser Broschüren und Schriften, deren eines den schönen Titel trägt: "Kunst, die verlorene Zeit und übel zugebrachten Jahre zu ersetzen."

Das Biedermeier bekommt einen Medien-Star


Was nun tun mit Kaspar? Man tat, was auch heute noch in ähnlichen Fällen üblich ist: man sperrt ihn erstmal ein. Schafft ihn auf den "Luginsland", einen der Türme der alten Nürnberger Burg, der als Gefängnis für kriminellen Kleinkram dient. Dort bleibt Kaspar einige Wochen, bis zum Juli 1828. Wird betreut von Wärter Hiltel und seiner Familie, wird begafft von Nürnberg und der ganzen Welt. Binnen kurzer Zeit wird der mysteriöse Findling zu  d e m  Medienereignis dieser Jahre. (Napoleon ist seit 13 Jahren aus der Weltgeschichte verschwunden, die Revolutionswirren von 1848 liegen noch in der Zukunft; der repressive Friede der metternichschen Restaurationsepoche ist unter'm Strich halt doch recht langweilig.)
Der Wirbel erreicht einen ersten Höhepunkt, als Nürnbergs Bürgermeister Binder am 14. Juli 1828 ("Allons enfants de la patri-hi-je!") in einer "Bekanntmachung" einem großen Publikum Einzelheiten aus Kaspars Vorleben unterbreitet.

Geschichten aus der Einzelhaft


Dieser Bekanntmachung zufolge hat der damals ca. 16jährige Kaspar sein ganzes bisheriges - ihm bewußtes - Leben in einem kleinen, engen und - versteht sich - niedrigen Kerkergemach verbracht, ohne die mindeste menschliche Gesellschaft.
Das Gemach muß zu ebener Erde oder im Keller sich befunden haben, da der Boden aus festgestampfter Erde bestand, welche zum Teil mit Stroh bedeckt war. Die Decke bestand aus Holzbrettern. Zwei kleine Fenster knapp unterhalb der Decke ließen das immergleiche dämmerfahle Licht herein, was Kaspar später zu der Vermutung bringt, die Fenster seien mit Holz verschlichtet gewesen. Ein Ofen in Form eines Bienenkorbes, offensichtlich von außen beheizbar, sorgte dafür, daß es im Verließ immer gleich und - wie Kaspar meinte - behaglich warm war Nicht nur menschliche Gesellschaft mußte Kaspar in den Jahren im Kerker entbehren - selbst Ungeziefer jeglicher Art schien sich von diesem eigentümlichen Raume fernzuhalten Noch nicht mal Geräusche der lebendigen Natur drangen in Hausers Kerker, kein Vogelzwitschern, Grillenzirpen; kein prasselnder Regen und nicht mal das Donnern eines Gewitters.
Zu Essen bekam er Wasser und Brot und nur dieses und nichts sonst, welches beides er nach dem Aufwachen regelmäßig und ohne Ausnahme vorfand. Hunger litt er nie, wohl aber Durst, da der Krug recht klein gewesen war. Gelegentlich auch hat das Wasser einen eigentümlich bitteren Beigeschmack gehabt und Kaspar wurde daraufhin stets unbezwingbar müde, statt wie sonst vom Wasser erfrischt zu werden. Kaspar erwähnte diesen Umstand, nachdem er jenen Geschmack wiedererkannt hatte in einem Wasser, das ein Arzt zu Versuchszwecken mit wenigen Tropfen Opiumtinktur versetzt hatte. (Opium, das nur nebenbei, war damals von jedermann wohlfeil zu erwerben.)
Gedanken, woher dies Brot und Wasser käme, hat er sich nie gemacht, gedachte, es käme von selber. (So wie auch der gesellige Mensch der Kultur Wissenschaft erst dann treibt, wenn irgend etwas nicht stimmt. Wirtschaftswissenschaften - um nur ein Beispiel zu nennen - hat man erst getrieben, als der simple Tausch von Produkten naturwüchsig und spontan so recht nicht mehr funktionieren wollte.)  Wenn der Krug leer war, hat er ihn wieder und wieder an die Lippen gehoben, in der Hoffnung, es käme irgendwann wieder Wasser nach. Eine Verknüpfung zwischen dem Schlaf und neuerlicher Speise ist ihm nie aufgegangen.
Seine Ausscheidungen hat er in einen Kübel entleert, welcher in einer Bodenvertiefung stand und mit einem Deckel versehen war (den Kaspar auch stets und gewissenhaft nach getanem Geschäft wieder drauftat.) Das muß ihn jemand gelehrt haben; Kaspar aber kann sich daran nicht mehr erinnern. Seine Hose mußt er sich auch beim Kacken niemals ausziehen (wie auch sonst nie), da im Schritt ein langer Schlitz sich befand. Von Körperpflege wußte Kaspar nichts, war aber dennoch immer sauber und adrett.
Kaspars Haupt- und einzige Beschäftigung (wenn man vom Stoffwechsel absieht) war das Spielen mit Holztieren, zwei Pferden und einem Hund. Wobei dies "Spielen" sich darin erschöpfte, den Holztieren bunte Bänder anzulegen, sodann wieder abzunehmen, anzulegen usw., usf. Er gab ihnen auch zu essen und zu trinken, unterhielt sich auch mit ihnen (über welche Themen auch immer), bewegte sie aber nimmermehr von der Stelle, die ganzen, langen Jahre nicht. Obwohl die Pferde Räder hatten, ist Kaspar niemals lauf die Idee gekommen, sie fortzubewegen. Sogar Unbequemlichkeiten in der eigenen Körperhaltung hat er auf sich genommen, um den Dingern auszuweichen. Diese Unbeweglichkeit der Pferde findet sich wieder bei Hauser selbst. Niemals ist er aufgestanden, hat sich stets nur in hockender Stellung auf dem Boden rutschend fortbewegt, hat weder je die Wände berührt, noch gar versucht, aus dem Fenster zu sehen. Nicht mal beim Schlafengehen hat er diese Haltung aufgegeben, hat immer mit angelehntem Rücken und sitzend geschlafen. Liegen kam für ihn nicht in Frage. Diese merkwürdige Gewohnheit war allerdings auch in der allerersten Zeit seines Nürnberger Aufenthaltes nicht beobachtet worden, zumindest ist keinem der Zeugen dergleichen berichtenswert. (Und es wäre ihnen berichtenswert erschienen, wenn sie dergleichen beobachtet hätten.)
Krank war Kaspar niemals in seiner Kerkerzeit, kann sich auch an keinerlei körperliche Schmerzen erinnern. Auch hat er nie geträumt, hat dies erst nach einiger Zeit in Nürnberg gelernt.

Glaub' ich nicht - Gibt's nicht - Kann nicht sein


So bewegend und mitleiderregend diese Kerkergeschichte auch ist, bei näherem Hinsehen wird man Haken daran finden.
Hauser hätte, seinen Schilderungen zufolge, in einer extrem künstlichen Umwelt leben müssen; einer Umwelt, die in ihrer Künstlichkeit damals einfach technisch nicht machbar war. Heute wären Gehirnwäsche-Zentren denkbar, in denen dieser Grad an Perfektion erreichbar wäre - im Biedermeier nicht.
Immer wenn Hauser aufwachte, fand er frisches Wasser und neues Brot. Daraus würde folgen, daß Kaspar Hauser entweder dauernd beobachtet wurde, was einen enormen Personalaufwand bedeutet hätte (zu welchem Zweck denn? Einen lästigen Menschen wegsperren kann man viel einfacher.) Oder aber Kaspar hätte einen sehr regelmäßigen Schlaf-Wach-Rhythmus haben müssen. Dazu aber fehlten ihm die Tageszeiten als Taktgeber. (Heute wissen wir, daß die Lebensrhythmen in einem Isolierbunker absolut nicht synchron zum 24-Stunden-Takt laufen.)
Womit wir beim zweiten Problem wären: volles Tageslicht bekam Kaspar zwar nie zu sehen (der Holzstoß vor dem Fenster), andererseits aber war es im Kerker auch nie ganz dunkel. Bei der damaligen recht beschränkten Möglichkeit künstlicher Beleuchtung kann dies nur bedeuten, daß Kaspar Hauser immer am Tage - und nur am Tage - wach war. Und dies - wohlgemerkt - ganz spontan, ohne Fremdeinwirkung. (Das Opiumwasser kann in dieser Hinsicht nicht als Regler gewirkt haben. Dies Wasser trank er nach dem Aufwachen und schlief dann immer sofort wieder ein; wahrscheinlich deswegen, damit der Zimmerservice ungestört Kaspar und den Kerker reinigen konnte.) Angesichts der großen Unterschiede in den Hell-Dunkel-Perioden über die Jahreszeiten hinweg, kann sich hier aber kein entsprechender Rhythmus, der für Sommer und Winter gleichermaßen passen würde, einpendeln.
Auch die immergleiche behagliche Wärme dürfte in einem Raum mit scheibenlosen Fensterluken bei den enormen Frösten unserer Breiten kaum herzustellen sein.
Kein Außengeräusch ist zu Kaspar gedrungen. Nichts. An die Gewitter, die ängstigenden Donner wenigstens, müßte er sich erinnern können, spätestens, als er in Nürnberg erneut solche Naturerscheinungen erlebte.
Kein Kleingetier ist Kaspar aufgefallen, kein Ungeziefer hat ihn je belästigt, noch entzückendes Geziefer erfreut. Ein Unding dies, vor der Erfindung der Insektizide. Dr. Preu, einer der Ärzte, die Hauser untersucht haben, schlug hierfür die Erklärung vor, Kaspar sei durch die lange und extrem reizarme Isolierung auf die Stufe eines Kleinkindes zurückgefallen und könne sich deshalb nicht mehr dran erinnern, so wie wir die Geschichte unserer frühen Kindheit nicht mehr aus eigenem Erleben kennen. Wenn dem so wäre, dann müßten ihm aber auch die meisten anderen Details aus dieser Zeit entfallen sein.
Kaspar Hausers strenge und einseitige Diät - Brot und Wasser und dies in so radikaler Ausschließlichkeit, daß es lange Zeit brauchte, ihn Schritt um Schritt an Normalkost zu gewöhnen - würde kein Mensch, geschweige ein Kind und Heranwachsender, so lange Zeit durchhalten. Das völlige Fehlen von Vitamin C in seiner Kost hätte ihm den Skorbut an den Hals gehext, das ebenfalls fehlende Vitamin A hätte zu Nachtblindheit und schließlich Hornhauterweichung führen müssen. Kaspar aber konnte - wie noch zu zeigen sein wird - nachts geradezu gespenstisch gut sehen. Bei seiner Ankunft in Nürnberg war von Mangelkrankheiten indes nichts zu sehen. Kaspar war im Gegenteil von überreichlichem Ernährungszustand (wie man heute Übergewicht schonend formuliert): 70 kg auf 1,45 m Körpergröße, ein rechter Pummel also. Nach der medizinischen Wissenschaft dürfte Hauser eine langjährige Brot- und Wasser-Diät nicht überleben. Kaspar aber überlebte nicht nur, er blieb bei alledem auch bemerkens- und beneidenswerter gesund. Keine Art körperlichen Schmerzes ist ihm aus der langen Kerkerzeit erinnerlich.

Alles nur ein gigantischer Schabernack?


Diese Ungereimtheiten sind anderen Leuten natürlich auch schon aufgefallen. Kurze Zeit, nachdem in der Öffentlichkeit Einzelheiten über Kaspar Hauser allgemeine Verbreitung gefunden hatten, kursierten die ersten Pamphlete, in denen kluge Leute und Wichtigtuer den nachweise für die These versuchten, es sei Kaspar Hauser nichts weiter als ein Betrüger. Es hätte sich demnach ein Stritzi die ganze Geschichte lediglich aus den Fingern gesogen.
Warum aber? Um sich von den Nürnbergern durchfüttern zu lassen? Sicher ein ange­nehmeres Leben als die Arbeit auf dem Feld oder in der Fabrik; setzt aber nahezu totale und allgegenwärtige Selbstkontrolle voraus. Also auf Dauer doch wieder ein Scheiß-Job. Überdies war keinesfalls mit hinreichender Sicherheit voraus­zusetzen, daß Bürgerschaft und Behörden so reagieren würden, wie sie's dann tatsächlich taten. Hätte Kaspar nicht, bei aller Tumbheit und Unbeholfenheit einen solch gewinnenden Charme ausgestrahlt, wie er dies in hohem Grade tat, so wäre er vermutlich dort gelandet, wo unnütze Blödel für gewöhnlich landeten: im Arbeits- oder Irrenhaus. Im übrigen waren - wie noch zu zeigen sein wird - an Hauser Eigenschaften zu beobachten, die kaum simuliert werden können.
Ein gewisser Kurt Kramer hat (in einem faktenreichen, oft aber auch ärgerlichen, weil wichtigtuerischen Buch) die These vertreten, es sei Kaspar Hauser mitnichten lange Jahre in diesem Kerker gehockt, sondern kurze Zeit nur. Durch Hypnose habe man bei Kaspar Hauser eine künstliche Amnesie (Gedächtnisschwund) erzeugt, habe ihm jegliche Erinnerung an sein Leben vor dem - wahrscheinlich nur kurzfristigen -Kerkeraufenthalt durch einen posthypnotischen Gedächtnisblock geraubt. Als Motiv für diese aufwendige Aktion nimmt Kramer politische Motive an. Jene alte - schon 1832 von Feuerbach in einem streng vertraulichen Brief an die Königinmutter (von Ludwig I.) Karoline von Bayern formulierte - These nämlich, es sei Kaspar Hauser der legitime Erbe des badischen Thrones gewesen und aus dynastischen Gründen aus dem Weg geräumt worden. Später davon mehr; mehr von der Hyp­nose, mehr vor allem vom badischen Herrscherhaus.

Die trüben Quellen der Kerkergeschichte


Eine dritte Möglichkeit, die Ungereimtheiten der Kerkerschilderung aufzulösen (welche sich aber mit der Hypnose-Theorie keinesfalls zu beißen braucht), bietet sich an, wenn man die Quelle dieser Schilderung etwas näher untersucht.
Die Kerkerstory des Kaspar Hauser wurde in seinen Grundzügen und wesentlichen Einzelheiten schon in der bereits erwähnten "Bekanntmachung" von Bürgermeister Binder festgeschrieben, welche - verfaßt am 7. 7. - am 14. 7. 1828 (andert­halb Monate nach Hausers Erscheinen in Nürnberg) veröffentlicht worden war. Alle darin enthaltenen Informationen über Kaspars Kerkerzeit kann Binder nur von Kaspar selbst erhalten haben.
Nun war Kaspars Artikulationsfähigkeit bei seinem Erscheinen - wie wir gehört haben - gleich null. Er vermochte zwar Geräusche in Wortform zu produzieren, konnte sogar seinen Namen schreiben, tat aber beides offensichtlich und unzweifelhaft ohne die mindeste Vorstellung davon, was Buchstaben und Worte jeweils bedeuteten. Kaspar machte nun zwar in der Folgezeit enorm rasche Fortschritte im Erlernen von Sprache und Schrift (im November 1828 verfaßte er schon eine recht passable erste Fassung seiner Lebensgeschichte; wir werden auf diese verdächtig schnelle Lernfähigkeit noch zurückkommen). Am 11. 7. 1828 (also nachdem Binder seine Geschichte bereits geschrieben hatte) wurde Kaspar erstmalig von Paul Anselm von Feuerbach im "Luginsland" besucht.
Johann Paul Anselm Ritter von Feuerbach
Paul Anselm Ritter von Feuerbach war - neben von Savigny in Preußen - der be­deutendste Jurist und (liberale) Rechtstheoretiker und -reformer seiner Zeit. 1814 hatte er das Bayerische Strafgesetzbuch verfaßt, hatte auch die Abschaf­fung der Folter durchgesetzt, ehe ihn die ultrakonservative Hofkamarilla in München aus dem Justizministerium als Präsident an das Appellationsgericht in Bamberg, wenig später nach Ansbach abschob. Einer der kompetentesten Menschen, die sich intensiv mit Kaspar Hauser beschäftigt haben.
Dieser Feuerbach also - von dem man annehmen darf, daß er im Verhören auch schwieriger Zeugen seine Erfahrungen gehabt hat - berichtet über Kaspars sprachlichen Ausdruck zum Zeitpunkt seines ersten Besuches, es habe der Findling die wenigen Worte, die er sagen konnte, bestimmt und deutlich, ohne Stocken oder Stammeln gesprochen. An eine zusammenhängende Rede sei bei ihm jedoch nicht zu denken gewesen. Kaspars Sprache sei so dürftig gewesen wie der Vorrat seiner Begriffe. Ein und dasselbe Wort habe er häufig in den verschiedensten Bedeutungen gebraucht. Es sei unerhört schwer gewesen, ihm etwas verständlich zu machen. "Alles, was ich aus ihm herausbringen konnte, war ein so kauderwelsches, verworrenes, unbestimmtes Zeug, daß ich, mit seiner Sprechweise noch nicht vertraut, das meiste nur erraten, vieles gar nicht verstehen konnte."
Und aus diesem Zeugen hat Binder die detaillierte Gefängnisstory herausgeholt. Es darf vermutet werden, daß Kaspar das meiste davon nicht positiv selbst formu­liert hat, daß man ihm vielmehr eigene Vermutungen - getragen von herzlicher Anteilnahme an seinem Geschick - vorgelegt hat, Kaspar sie dann bestätigt hat, bzw. man glauben zu müssen meinte, aus irgendwelchen Worten eine Bestätigung herauslesen zu dürfen. (Wir erinnern uns, daß Kaspar dazu neigte, zu echolalieren, also Worte, die ihm ein Anderer vorsprach, die er aus dessen Rede heraushörte, ein- oder mehrmals nachzusprechen).
Der Argwohn, es sei in dieser frühen Phase dem extrem spracharmen Kaspar Hauser allzuviel (aber keineswegs in Fälscherabsicht, vielmehr aus unkritischer Dis­tanzlosigkeit heraus) in den Mund gelegt worden, wird auch nicht dadurch ent­kräftet, daß Kaspar später - als er längst ordentlich zu sprechen gelernt hatte, ja sogar einen passablen schriftlichen Ausdruck sich erarbeitet hatte - die Binderschen Angaben durchaus bestätigte. Man weiß heute - durch raffinierte Experimente im psychologischen Labor und durch leidvolle Erfahrung aus Gerichts­sälen - recht genau, in welch großem Umfang selbst kritische Zeugen durch sugges­tive Fragen zu beeinflussen sind, wie die Erinnerung an ein Geschehnis durch nachträglich erhaltene Informationen verzerrt und verfälscht werden kann.
(Man fragte Versuchspersonen, die im Film einen Unfall mit einem blauen Auto gesehen hatten, ob es gelb gewesen sei und erhielt einige Wochen später bei einer Nachbefragung die Antwort, es sei grün gewesen - die Mischfarbe also von gelb und blau. Oder: Läßt man die Augenzeugen eines Auffahrunfalles - im Film - die Geschwindigkeit des auffahrenden Autos schätzen, so hängt die Antwort ganz entscheidend davon ab, ob in der Fragestellung von "sich berührenden" oder von "aufeinander aufprallenden" Autos die Rede ist. Bei den Versuchspersonen dieser Experimente nun handelt es sich um erwachsene, kritikfähige Menschen, die mitten im Leben stehen; die in emotionsfreier Atmosphäre Dinge zu sehen bekamen, die ihnen wohlvertraut waren.)
Hauser, der bei seinem Erscheinen fast nichts von früher wußte und dieses Wenige noch dazu nicht ausdrücken konnte, war beim Erwachen (Wiedererwachen?) seines Verstandes, seiner Ausdrucksfähigkeit längst auf die Bindersche Geschichte vom Kerkeraufenthalt fixiert. Zu fixiert, als daß er sie noch aus kritischer Distanz heraus hätte würdigen und sachgerecht modifizieren können.

Ein wenig Bildung wird vermittelt


Es war die Bekanntmachung des Nürnberger Bürgermeisters Binder auf scharfe Mißbilligung der bayerischen Behörden gestoßen. Gerügt wurde - nicht zuletzt von Gerichtspräsident von Feuerbach - die große Voreiligkeit dieser Maßnahme, welche eine ordnungsgemäße und kunstgerechte Verfolgung dieses mysteriösen Fal­les sehr erschwere. Zwar versuchte man, die Zeitungen, in denen die Bekannt­machung erschienen war, zu beschlagnahmen, kam damit aber zu spät. Bald schon wurde die Geschichte von Kaspar Hauser in der Binderschen Version durch Zeitungen in ganz Europa (und selbst in Übersee) verbreitet. Es wurde darin auch die Geschichte von Kaspars Verbringung nach Nürnberg erzählt.
Eines Tages also kam ein Mann von mittelgroßer Statur in Kaspars Einsamkeit, war einfach da. So wenig wie Kaspar sein Verschwinden registriert hat, so wenig weiß er von einem Eintreten des Mannes zu berichten. Mit einem Male war er da. Punkt.
Nie zuvor war er eines menschlichen - ja eines lebendigen - Wesens ansichtig geworden, hatte als Welt nur sich selbst und die kümmerliche Umwelt seines Kerkers erfahren. Dennoch - und auch dieser Umstand verdient als zweifelweckende Merkwürdigkeit festgehalten zu werden - nimmt Kaspar diese dramatische Er­weiterung seines Weltbildes gelassen hin, erschrickt nicht über den Eindring­ling, wundert sich nicht. Noch nicht einmal Anstalten macht er, den so plötz­lich Erschienenen genau anzusehen; er blickt ihm bei insgesamt dreimaliger Ge­legenheit kein einziges Mal in's Gesicht. Als wenn es nie anders gewesen wäre, läßt er es geschehen, daß der plötzlich hinter ihm stehende Mann einen niedrigen Schemel vor ihn stellt, einen Bogen Papier darauf ausbreitet, auf welchen er mit einem Bleistift einige Buchstaben malt. Indem er zunächst Kaspars Hand führt, später ihn selbständig kritzeln läßt, lehrt er Kaspar, diese wenigen Buchstaben schließlich alleine "schreiben" zu können. (Was er in Nürnberg dann ja auch mit Bravour erledigte, als er auf der Polizeiwache seinen Namen schrieb.) Es kommt dem Manne bei seinem pädagogischen Unterfangen Kaspars große Freude an dieser Tätigkeit, am schwarzen Produkt auf weißem Grund, sehr entgegen. Kaspar nämlich macht, als der Mann längst wieder weg ist, mit Aus­dauer Hausaufgaben, übt sich selbständig im Schreiben, ohne dabei aber - wie gesagt - eine Vorstellung von der Schrift, ja auch nur von Sprache zu haben.
Einige Tage mochten vergangen sein, als der Mann zurückkehrte. Diesmal legt er ein Buch (!) vor Kaspar hin, deutet mit dem Finger auf eine Stelle im Buch. Er spricht Kaspar einen Satz vor (vermutlich jenen mit dem Wunsche nach kavalleristischer Ausbildung) und animiert ihn, diesen Satz nachzusprechen. Auch hier erweist sich Kaspar als gelehriger Schüler beim Nachmachen von (für ihn) sinn­losen Sachen.

Aus dem Kerker in die Stadt


Abermals einige Tage später erscheint der Mann zum dritten Male und diesmal wird es ernst für Kaspar. Der Mann weckt ihn mitten in der Nacht, nimmt ihn huckepack auf den Rücken und trägt ihn aus dem Verlies und zunächst einen hohen und langen Berg hinan. Unter'm Tragen schläft Kaspar wieder ein.
Sie gehen einen Weg, der Träger und sein menschliches Paket, einen einsamen Weg. Kein Mensch begegnet ihnen unterwegs, Häusern und gar Dörfern weichen sie aus, wenngleich sie durchaus auf Sichtweite in ihre Nähe kommen. Unterwegs bekommt Kaspar neue Kleidung verpaßt, lernt auch das aufrechte Stehen und - obwohl ihm das ob der weichen Fußsohlen sehr beschwerlich wird - das Gehen über 40 - 50 Schritt. Nach Kaspars späterer Einschätzung kann der Weg in die Stadt nicht länger als 2 Tage gedauert haben (was aber nichts besagt, da sein Schlaf künstlich verlängert worden sein kann). Nach Binders Darstellung zieht der Mann - dem Kaspar auch jetzt noch kein einziges Mal in's Antlitz geblickt hat - in der Nähe von Nürnberg den versiegelten Brief aus der Tasche, händigt ihn Kaspar aus und erläutert ihm dann (dem sprachunkundigen Kaspar!) den wei­teren Weg nach Nürnberg hinein. Nach Kaspars späterer Darstellung allerdings wurde er nach Nürnberg hineingeführt, unmittelbar an den Unschlittplatz, wo ihn sein gesichtsloser Führer dann, mit einigen Versprechungen auf Wiederkehr, stehen läßt.
Niemand allerdings - Niemand! - hat Kaspar und seinen Begleiter vor seinem offiziellen Auftauchen gesehen, noch nicht einmal die Wachen an den Stadttoren. Und dies, obwohl eine beträchtliche Summe für die Aufklärung des Hauser-Rätsels ausgesetzt war, jedem Zeugen in Sachen Kaspar Hauser darüber hinaus beträchtliche Publicity winkte.

Vom lauten Turm auf die stille Insel


Kaspars Leben auf dem Luginsland war für ihn keineswegs angenehm. Jeder, der wollte, hatte Zutritt zu ihm, konnte den merkwürdigen Bub besichtigen, begaffen, durfte wohl auch derbe Späße mit ihm treiben. Ein heilloser Kontrast zu Kaspars extrem reizarmem Vorleben; heillos selbst dann, wenn man die Geschichte vom Kerker mit Skepsis betrachtet. Das zu Erwartende tritt dann erstaunlicherweise auch tatsächlich ein (ein logischer Widerspruch, dieser Satz, der aber psychologisch durchaus einen Sinn macht. Ähnliche Mechanismen menschlicher Verdrän­gung des Unangenehmen sind auch - z. B. - beim Thema "Waldsterben" zu beob­achten): Kaspar wird krank, ein heftiges Nervenfieber packt ihn und Freiherr von Feuerbach wagt die Prognose, es würde Kaspar binnen kurzer Frist sterben oder wahnsinnig werden, wenn er nicht schleunigst in andere, private Umgebung käme.
Der Magistrat hat ein Einsehen und Kaspar wird dem - wegen Kränklichkeit in den Ruhestand versetzten - Gymnasialprofessor Georg Friedrich Daumer (damals 28 Jahre alt) zur Pflege anvertraut. (Der kränkliche Daumer wird dann immerhin noch 75 Jahre alt.) Bis zum Januar 1830 bleibt Kaspar bei Daumer.
Dieser Daumer war keineswegs ein Plattkopf, ein gebildeter und vielseitig interessierter Mensch vielmehr. Von humanistischer Denkungsart war er ein Anhän­ger der damals gerade aufgekommenen Homöopathie, liebäugelte wohl auch ein bißchen mit dem Okkultismus, schrieb Gedichte (etliche davon hat später Brahms vertont). Daumer war ein Junggeselle, lebte mit seiner Mutter und seiner eben­falls unverheirateten Schwester in einem verwutzelten Häuschen auf der Insel Schütt in der Pegnitz (mitten in Nürnberg allerdings, um von vornherein irgend­welche Vorstellungen von wildromantischer Einsamkeit zu zerstreuen). Kaspar wird - versteht sich - zum Objekt homöopathischer Experimente, erlebt aber auch menschliche Wärme und Anteilnahme und findet in Daumer einen kompetenten Lehrer für alle Künste menschlicher Zivilisation.

Zäher Speichel, tiefe Knie


Kaspars neues Leben hinterlaßt deutliche Spuren in seinem Antlitz. Während sein Ausdruck anfangs als "sehr gemein" und, wenn es in Ruhe war, "fast als ohne Ausdruck" geschildert wurde, was ihm ein "fast tierisch stumpfes Aussehen" verlieh, so ist er nach wenigen Monaten "kaum wiederzuerkennen". Von Feuerbachs früher Wunsch, man möge doch von Kaspar eine Porträtzeichnung anfertigen lassen, wurde nicht erfüllt, so daß die Nachwelt die dramatische Veränderung seiner Physio­gnomie nicht mehr nachvollziehen kann. (Das bekannte Bild Kaspars mit dem Brief in der Hand vermittelt angeblich keinen rechten Eindruck von seinem Gesicht.)
Zu "Luginslands" Zeiten war Kaspars Speichel von ungewöhnlich zäher Beschaffen­heit gewesen; in solchem Maße klebrig, daß er Bilder - die ihm von den Besuchern ge­schenkt worden waren - dadurch an die Wand kleben konnte, daß er einfach mit der Zunge darüberfuhr. Beim späteren Abziehen blieben regelmäßig Teile des Papiers an der Wand haften.
Eine weitere körperliche Absonderlichkeit wurde bei Kaspar von mehreren untersuchenden Ärzten konstatiert: seine Kniescheibe lag bei ausgestrecktem Unter­schenkel in einer beträchtlichen Vertiefung, statt, wie üblich, etwas hervorzu­treten. Wenn er mit ausgestreckten Beinen auf dem Boden saß, so ging unter seiner Kniescheibe kaum noch ein Blatt Papier durch, so fest und dicht lagen die Kniekehlen auf dem Boden an. Wenn dies keine angeborene Fehlbildung der Beine war - Orthopäden könnten hier Auskunft geben -, so würde dieser Umstand die Annahme stützen, daß Kaspar doch lange, sehr lange Zeit in der beschriebe­nen hockenden Haltung zugebracht hat. Und wenn diese Fehlbildung erworben war, dann muß er sie zu einer Zeit erworben haben, als seine Knochen noch weich und formbar - also kindlich jung - waren.

Scharfe Sinne mit Magnetismus


Seine sämtlichen Sinne sind in der ersten Zeit von ganz bemerkenswerter Schärfe.
"Was das SEHEN betrifft, so gab es für ihn keine Dämmerung, keine Nacht, keine Finsternis. Im Dämmerlicht sah er sogar weit besser als am hellen Tage." Was seine Ursache darin gehabt haben dürfte, daß er sehr lichtempfindlich war, am hellen Tage ihn also die Überfülle des Lichtes blendete. Feuerbach berichtet unter anderem, daß Kaspar, bei Gelegenheit sorgfältig mit ihm angestellter Versuche, in völliger Nacht Farben, selbst verschiedene dunkle Farben, wie grün und blau, voneinander unterscheiden konnte. Auch beim Sehen in die Ferne vermochte er Einzelheiten zu erkennen, die einem unbewaffneten Auge normaler­weise verborgen bleiben.
Gleiches wird vom GEHÖR berichtet. Aus sehr großer Entfernung konnte er bei ei­nem Spaziergang die Tritte mehrerer Wanderer hören, unterschied diese auch nach der Stärke ihrer Tritte. Verständlich, daß ihn der Lärm einer großen Stadt anfangs sehr peinigte.
Sein feiner GERUCHSSINN machte ihm am meisten zu schaffen. Nahezu alle Arten von Gerüchen waren ihm widerlich, verursachten ihm Unbehagen. Beim Spaziergang über die Felder wurde ihm oft schlecht vom starken Geruche der blühenden Felder. Von einer in etlicher Entfernung geöffneten Weinflasche wurde er beschwipst; Friedhöfe mied er, weil ihn der Totengeruch gar zu unangenehm berührte.
Wer weiß, daß der GESCHMACK meist aus Geruch besteht, wundert sich nicht, daß Kaspar auch mit allerlei Speisen seine liebe Not hatte. Ganz allmählich nur - in sehr langsam sich steigernden Verdünnungen - vermochte man ihm andere Kost als Wasser und Brot attraktiv zu machen. Besonderen Abscheu hatte er vor Fleisch und Gewürzen aller Art. Mit einer Ausnahme: eine Mischung aus Kümmel, Koriander, Anis und Fenchel, mit welchem sein Brot versetzt war. Es sei auch seine gewohnte Gefängniskost mit dieser Mischung versetzt - bzw. bestreut - gewesen. (Alternative Brotbäcker haben mich aufgeklärt, daß dies eine alther­gebrachte und früher gar nicht seltene Brotwürzmischung sei.)
Das Merkwürdigste aber war wohl Kaspars Empfänglichkeit für MAGNETISMUS, den er fühlen konnte, wie in ausgeklügelten (und mißtrauischen) Experimenten nachgewiesen wurde. "Hielt Prof. Daumer den Nordpol gegen ihn, so griff Kaspar in die Gegend der Herzgrube und zog seine Weste auswärts, indem er sagte so ziehe es ihn, es gehe wie ein Luftzug von ihm aus. Der Südpol wirke weniger stark auf ihn, und er sagte von ihm: er wehe ihn an." Selbst bei Experimenten, bei denen man ihn bewußt zu täuschen suchte, konnte er stets den magnetischen Nordpol vom Südpol unterscheiden. Er konnte sogar, an der Verschiedenheit und Stärke des Zugs, den die Metalle auf seine Fingerspitzen ausübten, unterschei­den, aus welchem Stoff und von welcher Form die Gegenstände waren, die unter einem Bogen vor ihm verborgen lagen.
Im Laufe des Jahres 1828 verlor sich diese Überempfindlichkeit Kaspars bis hin zum nahezu völligen Verschwinden. Seine Sinne wurden stumpf, vor allem seit er an Fleischkost gewöhnt worden war, wie Dr. Preu in seinem ärztlichen Gut­achten schrieb. Bevor die Vegetarier nun aber zu heftig und freudig aufschreien, sei zu bedenken gegeben, daß die Fleischkost keineswegs die Ursache seiner Abstumpfung zu sein braucht, vielmehr beide Entwicklungen schlicht parallel liefen, zu gleicher Zeit stattfanden und nicht das Eine aus dem Anderen folgte. An Fleischkost konnte man ihn schließlich erst gewöhnen, als sein Geschmacks- und Geruchssinn schon weitgehend zu einem Normalmaß zurückgefunden hatte.

Die Schule des Sehens


Vorhin war von Kaspars enormer Scharfsichtigkeit die Rede gewesen, welche auch winzige Einzelheiten noch in der Ferne wahrzunehmen vermochte. Als Feuerbach Kaspar erstmalig auf seinem Turm besuchte, bat er ihn, doch einmal aus dem Fens­ter zu sehen und die wundervolle Aussicht auf die sommerliche Landschaft zu genießen. Kaspar tat ihm den Gefallen, fuhr aber sogleich mit dem Ausdruck großer Abscheu wieder zurück. Drei Jahre später fragte ihn von Feuerbach nach diesem Ereignis und Kaspar erklärte ihm: "Wenn ich nach dem Fenster blickte, sah es mir immer so aus, als wenn ein Laden ganz nahe vor meinen Augen aufge­richtet sei, und auf diesem Laden habe ein Tüncher seine verschiedenen Pinsel mit weiß, blau, grün, gelb, rot, alles bunt durcheinander, ausgespritzt. Ein­zelne Dinge darauf, wie ich jetzt die Dinge sehe, konnte ich nicht erkennen und unterscheiden."
Lange Zeit vor Feuerbach hat ein Chirurg namens Cheselden eine ähnliche Beob­achtung gemacht, als er nämlich einem jungen Mann, der von Geburt an blind ge­wesen war, den Star genommen hatte. Auch dieser Blinde mußte erst in langwieriger Übung lernen, ganz normal zu sehen. Er mußte Dinge berühren können, im Raum umhergehen, um allmählich - indem er seine übrigen Sinneserfahrungen mit dem Bild auf der Netzhaut in Zusammenhang brachte - aus den Farbflecken im Hirn ein geordnetes sinnvolles Bild zusammensetzen zu können.
Recht besehen, könnte dieser Umstand ein Indiz für die Richtigkeit der Kerkergeschichte sein. Er zeigt auch, daß Binder seinerzeit beim Verfassen seiner Bekanntmachung recht voreilig gewesen war, als er davon gesprochen hatte, Kaspar sei auf seinem Weg nach Nürnberg mehrfach in Sichtweite von Häusern und Dörfern gekommen.

Von der Mühe, die Welt zu ordnen


Wie dies ähnlich auch bei Kindern zu beobachten ist, vermochte Kaspar anfangs nicht zwischen lebenden Wesen und toter Materie zu unterscheiden. Er spricht mit dem Ofen in seinem Zimmer, mit dem Brot, hält hölzerne Pferde für ebenso lebendig wie die richtigen Rösser. Als er in einer Kirche ein Kruzifix sieht, ist er zu Tode erschrocken, bittet inständig, man möge den armen Mann doch aus seiner mißlichen und - am Ausdruck erkennbar - schmerzhaften Lage befreien. Bewegte Objekte - z. B. rollende Kugeln - hält er für lebendig, glaubt, es müsse diese Bewegung aus den Objekten selber kommen. (Bei Naturvölkern ist Ähnliches zu beobachten.) Erst durch längere, persönliche Erfahrung kann er vom Gegenteil überzeugt werden.
Zwischen Tieren und Menschen macht er keinen anderen Unterschied als den der verschiedenen Gestalt, glaubt beide von gleicher Art; die Katze möchte er vom Gehen auf zwei Beinen überzeugen, Pferden vermerkt er es übel, daß sie einfach auf die Straße scheißen, anstatt, wie er selber, ordentlich den Abtritt aufzu­suchen. Vom organischen Wachsen hat er lange Zeit überhaupt keine Vorstellung, hält alle Dinge für von Jemandem gemacht; die Blätter an den Bäumen z. B. müsse wohl irgend jemand daran befestigt haben.
Träume gar waren für ihn eine gänzlich neue Erfahrung, die er in seinem Verlies entbehren mußte. Folgerichtig hat er seine liebe Not, Traum und Realität ordent­lich auseinander zu halten, hält lange Zeit Geträumtes für tatsächlich Erlebtes. Auch hiervon kuriert ihn nur dauernde persönliche Erfahrung.

Verdächtige Fortschritte


So primitiv - und eigentlich gar nicht vorhanden - sein anfänglicher Wortschatz ist, so rasche Fortschritte macht er gerade auf diesem Gebiet. Im Novem­ber 1828 beginnt er seine Memoiren zu schreiben, ein Vierteljahr später schreibt er schon recht ordentlich. Er geht hierbei sehr handwerklich vor, überarbeitet den Text immer wieder, bis er ihn zu befriedigen vermag. (Es möchte so mancher Schmierant heutiger Zeit sich dies zur Mahnung nehmen.) Eine kleine Kostprobe: "Ich stand eine Zeitlang an der nämlichen Stelle, an welcher mich der Mann verlassen hat, bis derjenige Mann meinen Brief abnahm und mich in das Haus des Rittmeisters brachte. Als ich in dem Hause ankam, empfand ich von einer starken Stimme, die ich dort hörte, heftige Schmerzen in dem Kopf. Der Bediente setzte mich auf einen Stuhl und suchte mich auszufragen, doch ich konnte nicht mit andern Worten antworten, als mit denjenigen, die ich gelernt hatte und die ich ohne Unterschied gebrauchte, um Müdigkeit und Schmerzen auszudrücken." Und wiederum ein Vierteljahr später weiß er sein einjähriges Hiersein ganz artig zu bereimen:

Mein erstes Jahr begrüß ich heut
In Dank und Liebe hocherfreut,
Von vieler Noth und Last gedrückt,
Von heute an genieß ich was mein Herz entzückt,
Und fühl auch jetzt mich neu beglückt...

Gar nicht schlecht für Jemanden, der vor Jahresfrist noch ein lallender Idiot gewesen war.
http://upload.wikimedia.org/wikipedia/commons/thumb/3/32/Hauser_Kreul.jpg/220px-Hauser_Kreul.jpg
Bald auch vermag er hervorragende Bilder zu zeichnen, Aquarelle zu malen; in so guter Technik jedenfalls, einen öden Krakler wie mich vor Neid erblassen zu lassen.
Es sind diese Fortschritte so groß und sind so rasch aufgetreten, daß längeres Nachdenken darüber wohl angebracht erscheint. Mit dem Umstande, daß Kaspar mit gereiftem Körper und entwickeltem Gehirn an den Start ging, vor dem sich entwickelnden Kleinkind also einen Vorteil hatte, läßt sich diese enorme Be­schleunigung jedenfalls nicht zur Gänze erklären. Der Verdacht liegt nahe, daß Kaspar in Nürnberg nichts Neues gelernt hatte, vielmehr bereits Erlerntes, Ver­schüttetes wieder lernte. Welche Vermutung die weitere Frage nach dem Mechanis­mus dieses Wissensverlustes provoziert.
Seit etlichen Jahren schon gibt es Hauser-Forscher, welche sich in die Hypnose-Theorie festgebissen haben. Es sei, so meinen sie, bei Kaspar Hauser mittels Hypnose eine künstliche Amnesie (Gedächtnisverlust) erzeugt worden, man habe ihm suggeriert, er sei in die Zeit frühester Kindheit zurückgefallen (Regression). Einige Zeit habe man ihn dann tatsächlich im Kerker gehalten. Vor seiner Aus­setzung habe man ihm einen posthypnotischen Block suggeriert, welcher seinem Gedächtnis die Zeit vor seinem Kerkeraufenthalt unzugänglich gemacht habe. Im Traum, wo auch die hypnotische Zensur nicht immer funktioniert, hat Kaspar mehrfach von einem Schloß geträumt, von einem Wappen (zu einer Zeit, als er noch nie ein Schloß in Nürnberg von innen gesehen haben konnte).
Was immer dran ist: diese Hypothese ist wahrscheinlicher als die für bare Münze genommene Kerkerstory des Bürgermeisters Binder.

Ein Attentat


Mehr und mehr findet Kaspar seinen Platz in der Daumerschen Idylle. Er lernt mit Eifer und großer Wißbegierde, macht enorme Fortschritte auf vielerlei Gebieten. Seine ungewöhnlichen Sinnesleistungen bilden sich, je länger er dem normalen Reizpegel ausgesetzt ist, mehr und mehr zurück. Er wird zu einem fast normalen jungen Mann, nicht ganz so schlau wie die Meisten, nicht so kräftig und geschickt, immerhin aber ein artiger Zeichner und Reimer und guter Reiter dazu. Das Rätsel seiner Herkunft ist so wenig gelöst wie zu Beginn. Die Öffent­lichkeit beginnt, ihr Interesse an diesem merkwürdigen Findling zu verlieren, der Alltag geht auch in Nürnberg wieder seinen Gang. Kaspar indes kommt in eine pädagogische Wachstumskrise. Seine Wißbegierde schwindet, das Lernen fällt ihm immer schwerer. Er klagt über ein Gefühl eines schweren Druckes auf seine Stirn, welches ihn stark belastet. Regelmäßiger Unterricht ist kaum noch mög­lich.
Wir erinnern uns kurz an die Hypothese vom Wiedererlernen der durch Hypnose verlernten Fähigkeiten. Es könnte - im Rahmen dieser Hypothese - spekuliert werden, daß Kaspar nunmehr den alten Stand des Wissens wieder erreicht hatte, daß er ab jetzt tatsächlich Neues lernt. Es könnte auch der hypnotische Block in Bedrängnis geraten sein, das alte Gedächtnis vor dem Durchbruch gestanden haben. Der Druck im Kopf machte dann einen Sinn; denken Sie bloß mal an den eigenen Stress, wenn etwas quasi auf der Zunge liegt, partout aber nicht raus will aus dem Hirn.
All dies ändert sich schlagartig, als am 17. 10. 1829 ein Mordanschlag auf Kaspar Hauser verübt wird, mitten im Hause Daumer. Kaspar hatte sich in geschäft­lichen Angelegenheiten auf den Daumerschen Abtritt zurückgezogen, als ihm die besinnliche Ruhe des Stuhlgangs jäh gestört wurde. Ein Mann, ein großer schwarz­gekleideter Mann, reißt die Klotür auf und versetzt Kaspar einen Hieb quer über die Stirn, mit einem Instrument, das nach Kaspars Schilderung (und Zeich­nung) ein merkwürdiges Mittelding aus Rasiermesser und Fleischerbeil gewesen sein muß. Kaspar erleidet eine lange, heftig blutende Wunde an der Stirn, die sich aber bald als relativ harmlos herausstellt. Dieser Umstand und das nunmehr wieder zur alten Heftigkeit angewachsene Interesse der Öffentlichkeit ließen bald schon den Verdacht aufkommen, es sei das ganze Attentat nur ein plumper Bluff Kaspars gewesen um wieder in's Gerede und in die Schlagzeilen zu kommen.
Leute, die Kaspar persönlich kannten, halten wiederum dies für Unfug: es habe Kaspar viel zu viel Schiß gehabt, zuviel Angst vor körperlichen Schmerzen, als daß er solch ein Wagnis auf sich genommen hätte. Der Nürnberger Magistrat jedenfalls sah sich veranlaßt, Kaspar künftig einen Leibwächter mitzugeben.
Das Attentat zeitigte weitere Folgen: der Druck auf die Stirne war mit einem Male weg, die alte Wißbegierde, der Lerneifer stellte sich wieder ein. Und: Kaspar reagiert wieder auf Magnetismus, ein Teil der alten Hypersensibilität war erneut zu beobachten.
Möglicherweise - um nochmal auf die Hypnose zurückzukommen - hat die im Attentat liegende Drohung (das Attentat sollte offensichtlich nicht töten) den hypnotischen Block wieder stabilisiert; für einige Zeit.

Kaufmann, Freiherr, Lord


Kaspars Aufenthalt in der verwinkelten Idylle der Daumers erschien nicht mehr hinreichend sicher. So also kam Kaspar im Januar 1830 ins Haus des Nürnberger Kaufmanns Biberbach, nachdem zuvor Freiherr von Tucher zu Kaspars amtlichem Vormund bestellt worden war. Der Aufenthalt dort ist für beide Seiten nicht sehr erquicklich. Der erfolgreiche Kaufmann ist oft auf Reisen, kann sich Kaspar also kaum widmen. Seine Frau versucht dies umso mehr, sie stellt ihm sexuell nach, was wiederum den in diesen Dingen noch recht kindlichen Kaspar sehr verdrießt. Als ihn schließlich Frau Biberbach beim Magistrat als "entsetzlich lügenhaft" denunziert, nimmt ihn im Mai 1830 sein Vormund in sein eigenes Haus auf. Kaspar richtet sich bald und gut in diesem allervornehmsten Hause zu Nürnberg ein, bewegt sich gewandt und wohlerzogen in der guten und besten Gesellschaft. Der Handkuß geht ihm so locker von der Zunge wie irgendeine alberne Salon-Schmeichelei.
Im Mai 1831 nimmt Lord Philipp Henry Stanhope zum zweiten Male Aufenthalt in Nürnberg. Beim ersten Besuch hatte dieser Bilderbuch-Brite - groß, hager, reise­lustig ("Sir David Lindsay"! rufen jetzt die Karl-May-Kenner; "genau", murmle ich) - von Kaspar Hauser keinerlei Notiz genommen, obwohl dieser gerade damals - es war im Oktober 1829 - wegen des Attentats in aller Munde gewesen war. Nun aber bemüht sich der Lord mit auffallender Emphase und Hartnäckigkeit um den Salon-Findling. Er macht ihm Geschenke, teure Geschenke und beginnt einen - aus heutiger Sicht - reichlich schmalzig-empfindsamen Briefwechsel mit ihm. In Nürnberg beginnt man bald schon über das seltsame Paar zu tuscheln, das man oft auf gemeinsamen Ausflügen und Unternehmungen sehen kann. Trotzdem kann Stanhope im November 1831 seine gerichtliche Bestellung zum Vormund Kas­par Hausers durchsetzen.
Im Dezember 1831 übersiedelt Kaspar auf Stanhopes Wunsch nach Ansbach, wo er bei der Familie des Lehrers und Organisten Johann Georg Meyer wohnt. Lord Stanhope verläßt am 19. Januar 1832 Ansbach und kehrt nie wieder zurück. Seine Lordschaft verpißten sich. Zwar schrieb er weiter eine Menge empfindsamer (ein irgendwie unheimlich geiles Wort damals) Briefe an Kaspar, versprach auch mehrmals, Kasparn heimzuholen auf das Schloß seiner (Stanhopes) Ahnen, beließ es aber dabei. In einem der Briefe etwa schrieb er: "Die Empfindungen, die du mir schilderst, haben mich unendlich erfreut, und ich schätze mich sehr glück­lich, daß ich deine Zufriedenheit und dein Wohlsein, mein geliebter Pflegesohn, befördert habe. Ganz gewiß weiß ich, daß ich deine Liebe und Freund­schaft, die mir so sehr das Leben versüßen, immer genießen werde, wie auch, daß ich niemals aufhören werde, sie zu verdienen, und dein Glück wird immer das meinige vermehren." Später übrigens - Kaspar Hauser war noch keine 14 Tage tot - wurde Lord Stanhope einer der eifrigsten "Entlarver" Kaspars, darin unterstützt von J. G. Meyer. Er gab eine Dokumentation heraus, in welcher er nachzuweisen suchte, es sei dieser von ihm innig als Sohn geliebte Kaspar nichts weiter als ein gemeiner Betrüger gewesen.
Kaspar jedenfalls blieb in der Obhut des pedantischen und engstirnigen Pädagogen zurück. Er verkehrt auch in Ansbach locker in der feinen Gesellschaft, An­selm von Feuerbach verschafft ihm eine Stelle als Schreiber am Appellationsgericht.

Der Mordanschlag


Am 14. 12. 1833 um 9.00 Uhr morgens wird Kaspar auf den Stufen zum Gericht angesprochen. Der Mann richtet ihm schöne Grüße vom Hofgärtner aus, dieser lade ihn ein, heut nachmittag so gegen 3.00 Uhr in den Hofgarten zu kommen. Dort werde er ihm die verschiedenen Arten von Ton zeigen, die bei der Ausschachtung für einen Artesischen Brunnen angefallen seien.
Zur angegebenen Zeit findet sich Kaspar tatsächlich im Hofgarten ein, der um diese Stunde, der naßkalten Witterung wegen, von Spaziergängern verlassen ist. Nur ein Mann ist da, groß, mit schwarzem Backen- und Schnurrbart, welcher Kaspar am Denkmal des Dichters Uz erwartet. (Ohne diesen Umstand würde diesen bedenkmalten Lokaldichter Uz heute kein Mensch außerhalb Ansbachs mehr kennen. Es ist schon von einiger Ironie, auf welche Weise man schließlich doch noch unsterblich werden kann.) Der Mann tritt auf Kaspar zu, reicht ihm einen Beutel aus violettem Samt; Kaspar greift danach und in diesem Augenblick stößt ihm der Mann ein Messer durch alle dicke Winterkleidung hindurch tief in die Brust. Der Mörder flieht, Kaspar jagt in panischem Schrecken aus dem Hofgarten hinaus, läuft zu Lehrer Meyer. Meyer, der die Verwundung für die - harmlose - Folge eines von Kaspar selbst inszenierten Schau-Attentats hält, will mit ihm zum Tatort zurückgehen. Auf dem Weg dorthin aber bricht Kaspar doch noch zusammen. Dem herbeigerufenen Arzt Dr. Heidenreich genügt eine oberflächliche Untersuchung um die Wunde als lebensgefährlich zu diagnostizieren.
Die Polizei- und Justizbeamten, die Kaspar auf dem Totenbett verhören, teilen Meyers Skepsis. Auch sie haben erhebliche Zweifel an Kaspars Geschichte.
Am Tatort findet man am selben Tage noch jenen Beutel, von dem Kaspar gesprochen hatte. In dem Beutel liegt ein Zettel, auf dem in Spiegelschrift (und nicht in Kaspars Handschrift) geschrieben steht:
Abzugeben
Hauser wird es euch ganz
genau erzählen können, wie
ich aussehe, und woher ich bin.
Dem Hauser die Mühe zu ersparen
Ich komme - - - - - - -
Ich komme von von - - - -
der Baierischen Gränze - - -
Am Fluß - - - -
Ich will auch sogar noch den
Namen sagen: M. L. 0.
(Spiegelschrift ist übrigens recht einfach zu erzeugen: man schreibt mit der linken Hand von rechts nach links, denkt dabei an Normalschrift und läßt die linke Hand einfach laufen. Es wird von selber Spiegelschrift daraus. Allerdings: bei Rechtshändern sieht dies recht kraklig und unbeholfen aus; Linkshänder tun sich sehr viel leichter - siehe Leonardo da Vincis "Geheimschrift". Das Lesen des selbst Geschriebenen ist dabei sehr viel schwieriger - wenn nicht zur Gänze unmöglich - als das Schreiben selbst. Erst wenn man das Blatt umge­dreht gegen das Licht hält, sieht man, daß man doch was Vernünftiges geschrie­ben hat.)
Zwei Jahre später findet man unweit des Tatorts einen fest in die Erde gerammten Dolch, der dort schon längere Zeit gesteckt haben muß. Der Dolch paßt in sei­nen Maßen recht genau in die tödliche Wunde Kaspars.
Am 17. 12. 1833 erliegt Kaspar Hauser seinen Verletzungen.

K. H. - Ein Cousin des Walhalla-Wiggerls?


Das war's. Das war in etwa die Geschichte von Kaspar Hauser, die wir wissen. Der Rest ist - weiß Gott' - nicht Schweigen, vielmehr eine Flut von Publika­tionen zu diesem Thema, wovon die meisten es nicht bei einer Schilderung seines Lebens bewenden lassen, vielmehr mit Scharfsinn, großem Fleiß und auch etlicher Wichtigtuerei versuchen, das Rätsel Kaspar Hauser zu lösen. Ein gefun­denes Fressen für Schreibtisch-Detektive. (Ich will mich gar nicht lustig machen; es ist wirklich ein faszinierendes Spiel.)
Nahezu alle Theorien gehen davon aus, daß die in Hausers Begleitschreiben dargelegte Geschichte vom armen Mägdlein und vom kinderreichen Taglöhner nicht stimmen kann (aus den bereits skizzierten Gründen).
Die älteste und bis heute beliebteste Theorie geht davon aus, daß Kaspar Hauser in Wahrheit ein angeblich toter Erbprinz aus dem Hause Baden sei, den man aus Thronfolgegründen aus dem Weg geräumt habe. Schon kurze Zeit nach Binders Be­kanntmachung war ein anonymer Brief aus Karlsruhe in Nürnberg eingetroffen, in welchem ebendies behauptet wurde. Dem Hinweis wurde, eben weil er anonym war, nicht nachgegangen. Anselm von Feuerbach schließlich hat im Frühjahr 1832 in einer geheimen Schrift an die Königinmutter Karoline von Bayern (die aus dem Hause Baden stammte und - im Falle Feuerbachs These stimmte - die leibliche Tante von Kaspar Hauser gewesen wäre; ihr Sohn Ludwig I. wäre dann der Cousin des Nürnberger Findlings gewesen.) diese These ausführlich begründet. Feuerbach ist übrigens im Mai 1833 sehr plötzlich verstorben; sein Sohn Ludwig (der Philosoph) war überzeugt, sein Vater sei einem Giftanschlag zum Opfer gefallen, nachdem er die Prinzenschaft Kaspar Hausers entdeckt habe.

Dienstag, 11. Juni 2013

Armutsbericht

Armut ist gewiß etwas Schreckliches. Mir dürfert einer 10 Millionen hinlegen und mir sagen, daß ich dafür arm sein muß. Ich nehmerts nicht.
JOHANN NESTROY

Freitag, 7. Juni 2013

Das Pferd in der italienischen Musik

Aufklärung: Wer was weiß, soll es weitersagen

Selbst in musikalisch hochgebildeten Kreisen macht man sich allzu selten klar, welche eminent bedeutende Rolle das Pferd in der italienischen Musikgeschichte spielt.
Das geht los mit Gioachino Rossini (Joachim Pferdlein), setzt sich fort mit Ruggero Leoncavallo (Rüdiger Löwenpferd) und führt uns schließlich zum one and only king of the kings, Giuseppe Pferdi himself.
Nur, damit es nicht in Vergessenheit gerät, immer der Aufklärung verpflichtet.