Montag, 20. Februar 2012

Traffico a Napoli

Wer in Deutschland den Führerschein gemacht und hier seine Fahrpraxis erworben hat, der ist daran gewöhnt, Verkehrsregeln sehr wörtlich zu nehmen. Kommt er nachts um drei Uhr an die rote Ampel einer sehr übersichtlichen Kreuzung, an welcher er weit und breit der einzige Verkehrsteilnehmer ist, so wird er anhalten und warten, bis die Ampel grün zeigt.
Er tut gut daran, denn sollte ein im Unterholz versteckter Polizist beobachten, wie er bei rot über die Ampel fährt, dann wird er eine Anzeige bekommen.
Vorschriften sind in Deutschland auch dann zu beachten, wenn sie in der jeweiligen Situation sinnlos oder gar widersinnig sind.
Fährt ein Deutscher nach Italien, so fängt er spätestens in der Toskana an, sich zu wundern. Die Verwunderung wird in Rom zur Ängstlichkeit, und im Großraum Neapel bricht blanke Panik aus.

Vorfahrt

Meine erste nachhaltige persönliche Erfahrung mit dem italienischen Autoverkehr machte ich Anfang der neunziger Jahre in Livorno, also noch relativ weit im Norden.
Stoßzeit, Kreisverkehr, ich steh da und komm nicht rein in den Kreis, die Schlange der Autos reißt und reißt nicht ab. Hinter mir hupen die anderen Autos - viele Autos! - bereits ungeduldig. Was soll ich tun? Ich kann doch nicht einfach in den Kreisverkehr einfahren und damit den anderen einfach die Vorfahrt nehmen!
Ein dabeistehender Polizist, der den Verkehr weniger regelt als vielmehr beobachtet, winkt mir zu, erst glaub ich's nicht, dann wird es unmißverständlich: Der Polizist winkt mir - und zwar energisch - zu, ich solle mich doch gefälligst in den an mir vorbeifließenden Verkehr hineindrücken. Ein Trick, um mir dann wegen Übertretung der Straßenverkehrsordnung ein Bußgeld abzunehmen?
Der Polizist wird immer ungeduldiger, ich fahre also raus, langsam, vorsichtig, aber doch entschieden - und man läßt mich rein, die Autos werden langsamer, lassen eine Lücke und ich bin drin. Niemand hupt wütend, weil ich ihm die Vorfahrt genommen hätte.
Und dann, einige Jahre später, nach Training in Sardinien, den Abruzzen und Apulien, der absolute Ernstfall: Kampanien.
Eine Nebenstraße, Autobahnzubringer und entsprechend gut befahren, kreuzt eine vorfahrtsberechtigte und ebenfalls gut befahrene Staatsstraße (entspricht der deutschen Bundesstraße). Also steh ich und warte. Und warte. Und hinter mir hupen die Leute und ich trau mich nicht und gerate durch das Gehupe immer mehr unter Druck und trau mich schließlich doch.
Langsam, vorsichtig, aber kontinuierlich. Und: Draußen bin ich, denn die von der Querstraße herkommenden Autofahrer werden langsamer und verschaffen mir die Lücke, die ich zum Rausfahren brauche. So geht es, ohne Ampel und trotz erheblichen Verkehrs, der aus allen vier Richtungen auf die Kreuzung zufährt.
Die Rechts-vor-Links-Regelung schafft Ordnung, sie funktioniert wunderbar bei mäßigem, normalem und etwas dichterem Verkehr. Wehe aber, der Verkehr wird wirklich dicht, aus allen und nach allen Richtungen. Eine Rechts-vor-Links-Kreuzung wird dann ohne regelnde Polizei fast nicht mehr befahrbar. Der Stau ist vorprogrammiert. In Deutschland.
In Italien habe ich beobachtet, daß an einer abknickenden Vorfahrtsstraße, an der fast immer sehr viel Verkehr ist, die Autos sich jeweils ganz locker eingefädelt haben und jeder den anderen auch widerstandslos hat einfädeln lassen. Und das ohne Hinweisschild "Einfädeln lassen". Kurz zuvor hatte ich eine ganz ähnliche Situation in Deutschland erlebt und ich mußte ewig lange warten, bis ich endlich die Chance hatte, auf die Vorfahrtsstraße einzubiegen. Keiner hat mich freiwillig reingelassen. Und wehe, ich hätte mich langsam reingedrückt!!!
In Regenstauf hat mich - der ich gerade aus dem Italienurlaub zurückkam und noch etwas italienisch fuhr - ein Autofahrer, wütend schimpfend und hupend, durch den ganzen Ort verfolgt, als ich mich, ganz sanft, vor ihm reingedrückt hatte.

Chaos

In den späten Neunzigern waren wir mit der Klasse meines Sohnes auf einer Busreise zu den antiken Ausgrabungsstätten bei Neapel. Ein Großteil der Mitreisenden war noch nie soweit in den Süden des Stiefels vorgedrungen, für sie war diese Reise eine erstaunliche Erfahrung. Begeistert von der großartigen und fruchtbaren Landschaft dort waren alle, einer sagte, er habe bisher immer gedacht, in Süditalien sei alles flach und sandig, ein Ausläufer der Sahara.
Was das bunte und lebhafte Treiben in den Straßen Neapels betrifft, so lag die Stimmungslage irgendwie zwischen überheblichem Amüsement und unverhohlener Faszination. Der neapolitanische Straßenverkehr aber hat sie - obwohl sie schon eine Menge Vor-Urteile mitbrachten - überwältigt und entsetzt. Sie waren sichtlich froh, hinter den sicheren Scheiben des Busses zu sitzen und fürs Fahren nicht selber verantwortlich zu sein. Dieses heillose Chaos aber auch, jeder macht, was er mag, dieser helle Wahnsinn! Null Ordnung.
Einer der anderen Eltern, die mitgereist waren, war von Beruf Techniker, technischer Prüfbeamter, um genau zu sein, und als solcher gewohnt, komplexe Abläufe zu beobachten, zu beschreiben und schließlich zu bewerten.
Irgendwann sprach er mich an, da er wußte, daß wir schon dreimal in der Gegend (die kurz drauf für 10 Jahre zur Heimat wurde) auf Urlaub waren. Zum anderen wußte er auch, daß ich Verkehrspsychologe bin.
Er beobachte den Straßenverkehr hier jetzt seit einigen  Tagen und habe große Schwierigkeiten, das Gesehene zu verstehen. Was er da draußen sehe, sei das pure Chaos, der nackte Wahnsinn, das totale Durcheinander. Keiner halte sich an irgendwelche Verkehrsregeln, die ja hier in Italien nicht anders seien als in Deutschland, jeder scheine das zu tun, was ihm momentan gerade am passendsten erscheine. Was er aber auch beobachte, sei der absolut irritierende Umstand, daß dieses Tohuwabohu offensichtlich funktioniere. Jeder komme am anderen irgendwie vorbei, es krache nicht ständig, wie man dies als deutscher Verkehrsteilnehmer bei diesen Zuständen vermuten würde, er höre die Notfallsirene keinesfalls häufiger als in einer deutschen Großstadt, man hupe hier zwar viel, aber es sei ein informierendes Hupen, nicht das aggressive Hupen von Leuten, die von anderen um ihr Vorfahrtsrecht gebracht wurden.
Das ist der Punkt! Man kommt als außenstehender oder teilnehmender Beobachter des (süd)-italienischen Straßenverkehrs nicht um die Erkenntnis herum, daß dieses Chaos wider jede (deutsche) Erfahrung zu funktionieren scheint, was durch die italienische Unfallrate belegt wird. [1]
Wenn aber das neapolitanische Verkehrschaos funktioniert, dann kann es kein Chaos sein. Chaos, das liegt in der Definition des Wortes kann nämlich nicht "funktionieren", da jedes Funktionieren von irgendetwas strenge Regeln und deren Beachtung voraussetzt, Chaos aber nahezu regellos abläuft.
Es ist mit dem Straßenverkehr wie mit einer fremden Sprache. Wer sie nicht beherrscht, für den ist sie nichts als sinnloses Gebrabbel. Wer die Sprache des neapolitanischen Straßenverkehrs nicht versteht, sieht nichts als regelloses Chaos.
Keiner kann sich darauf verlassen, daß der andere Verkehrsteilnehmer sich leidlich berechenbar verhält, es ist also jederzeit fast alles möglich. Das erzwingt erheblich niedrigere Geschwindigkeiten als in einer deutschen Stadt, das erzwingt Blickkontakt, jeder Verkehrsteilnehmer ist gezwungen, für den anderen mitzudenken.
Der neapolitanische Straßenverkehr erzwingt Disziplin.
Neapel und Disziplin?

Disziplin

Je rauher und stürmischer das Meer, desto höher und haltbarer müssen die Deiche sein. Der Unterschied zwischen Mittelmeer und Nordsee wird jedem sofort klar, wenn er die massiven Deichanlagen Frieslands mit der Mittelmeerküste vergleicht, wo die Kirche oft nur wenige Meter Sandstrand von der Wasserlinie entfernt steht.
Je wilder und anarchischer ein Volk, desto ver-regelter müssen seine Gesetze sein, desto strenger muß man auf die Einhaltung dieser Gesetze achten.
Nun gelten einerseits die Deutschen als das disziplinierteste und gesetzestreueste Volk Europas, andererseits ist das Zusammenleben in Deutschland so streng verrechtlicht wie nirgendwo sonst.
Ein Widerspruch?
Nein, denn Disziplin ist etwas völlig anderes als Gehorsam. Disziplin ist die freiwillige Unterordnung unter ein als sinnvoll erkanntes Prinzip oder Gesetz.
Spontan sich bildende Schlangen an einer Bushaltestelle, wie sie in England selbstverständlich sind, konsequent rechts auf der Rolltreppe stehende Menschen, damit die etwas eiligeren links ausreichend Platz haben, sind in Deutschland allenfalls dann möglich, wenn ein entsprechendes Schild dies verlangt.
Ein Italiener muß disziplinierter und selbstverantwortlicher sein als ein Deutscher, denn die italienischen Institutionen sind deutlich unzuverlässiger als in Deutschland. Oder sind in Italien die Institutionen nachlässiger, weil sie es sich bei ihrer disziplinierten Bevölkerung leisten können?
In gleicher Weise sind auch die Regeln im Straßenverkehr theoretisch zwar vorhanden, werden in der Praxis aber eher als unverbindliche Empfehlungen gehandhabt.
Deutschland dagegen ist ein anarchisches Volk, Disziplin ist nur dort anzutreffen, wo ein Sheriff an der Ecke steht und kontrolliert.

Ich weiß von einem Autofahrer aus Kampanien, der in Deutschland nach 50 oder 100 km von der Autobahn heruntergefahren ist, weil er mit den Nerven völlig am Ende war. Die deutsche Autobahn hat ihn kleingekriegt. Ich kann ihn verstehen, ich habe mich auf süditalienischen Straßen auch sicherer gefühlt als auf deutschen.




[1]   Die höhere Zahl von Verletzten und Verkehrstoten liegt daran, daß man in Italien mit Sicherheitsgurt und Helm nicht viel anzufangen weiß. Kleine Kinder stehen auf der Vespa vor dem Fahrer, im Auto sind sie prinzipiell nicht angeschnallt, oft stehen sie vorne vor dem Beifahrersitz, einmal habe ich sogar beobachtet, daß der steuernde Vater ein Kleinkind zwischen sich und dem Lenkrad auf dem Schoß hatte.

Darennt

Wer in den fünfziger, sechziger Jahren mit einem Eingeborenen durch das südliche Niederbayern fuhr, wurde hart mit der Vergänglichkeit des Menschen konfrontiert. An jeder dritten scharfen Kurve - deren es viele gab, vor Erfin­dung der Geraden - deutete der Einheimische auf ein Gedenkkreuz am Straßenrand und sagte: "Do hot se vor finf Joan oana darennt!" (Da hat sich vor fünf Jahren einer derrannt.) Oder vor drei oder zehn Jahren oder neulich erst, wenn lediglich Blumen den Platz für das künftige Gedenkkreuz markierten. Und ab und zu, an einer besonders engen Kurve, hat dein Fremdenführer mit ratlo­ser Geste gemeint: "Des wundat me eingdle, daß se do no koana da­rennt hot." (Es wundert mich eigentlich, daß sich hier noch keiner derrannt hat.)


"Se darenna" oder auf deutsch: "am Steuer eines Kraftfahrzeuges durch übermäßige Geschwindigkeit ums Leben kommen" war für den motorisierten Landbewohner ein Schicksal, mit dem er immer zu rech­nen hatte, obwohl damals Autos noch erheblich seltener waren als heute.
Das lag zum Teil sicher daran, daß seinerzeit weder Sicherheitsgurt, noch ABS und Airbag erfunden waren, wohl aber bereits das Bier.
Einen weiteren Grund für die vielen tödlichen Verkehrsunfälle jener Zeit sehe ich darin, daß damals Autos wesentlich seltener waren als heute und der Niederbayer an sich zu einer weniger optischen als vielmehr statistischen Fahrweise neigt.
Der etwas dunkle Sinn dieser Bemerkung erschließt sich besser, wenn wir uns die seinerzeit ebenfalls recht häufigen Verkehrsunfälle an Bahnübergängen ansehen.
Bahnübergänge waren im Rottal - und sind es noch - weitgehend schienengleich und unbeschrankt. Bei kleineren Straßen war so gut wie nie ein Warnblinklicht vorhanden, das weiß-rote Kreuz mußte es tun.
Kein Wunder also, möchte man denken, daß an diesen Bahnübergängen in schöner Regelmäßigkeit Autos vom Zug erfaßt wurden. Das Wundern beginnt, wenn man sich einen solchen Bahnübergang bei Ta­geslicht und Sonnenschein besieht. Die Eisenbahn macht im Rottal relativ wenige Kurven und diese wenigen sind langgezogen und daher übersichtlich. Es kommt hinzu, daß der Zug vor jedem Übergang ein Pfeifsignal gibt. Nachts sind die Lichter des herannahenden Zuges weit zu sehen, in der ländlichen Gegend ist es dann so ruhig, daß er von weitem schon zu hören ist.
Und doch sind die Unfälle passiert.
Bemerkenswerterweise waren es fast immer Einheimische, die verunglückten, Leute aus der unmittelba­ren Umgebung des Unfallortes. Die beste Theo­rie, die mir zur Erklärung dieser erstaunlichen Tatsache einfällt, ist der Um­stand, daß der Rottaler zum einen auf den richtigen Gang seiner Uhr Wert legt, zum anderen großes Vertrauen hat in die Ordnung der Welt im Allgemeinen und der Bahn im Besonderen.
Auch wenn der Fahrplan der Bahn zweimal im Jahr geändert wurde, blieben die Zugverbindungen im Rottal über die Jahre hinweg gleich. Es kam hinzu, daß sich der Zugverkehr doch eher in Grenzen hielt, so daß der Rottaler den für ihn wichtigen Fahrplanausschnitt ziemlich gut im Kopf haben konnte - und hatte.
Wenn der Rottaler Bauer am späten Nachmittag auf seinem Feld arbeitete und den sich nahenden Zug hörte, so wußte er, daß es jetzt acht Minu­ten nach fünf sein mußte, weil dies nur der Fünf-Uhr-Zug aus München sein konnte. Und wenn er umgekehrt um 16:15 h an den Bahnübergang kam, wußte er, daß er nicht auf einen eventuell sich nahenden Zug achten mußte. Der Dreiviertelvier-Zug aus Passau war längst durch und der Fünf-Uhr-Zug aus München noch lange nicht fällig. Da demnach logischerweise gar kein Zug kommen konnte, achtete der ortsansässige Autofahrer um diese Zeit nicht auf einen Zug, der - wie gesagt - gar nicht kommen konnte.
Wenn aber...
Wenn zum Beispiel der Dreiviertelvier-Zug aus Passau eine halbe Stunde Ver­spätung hatte und an einem Bahnübergang auf einen jener Einheimischen traf, die Uhr und Gedächtnis mehr vertrauten als Augen und Ohren - dann waren die Grenzen der statistischen Fahrweise erreicht.
Diese Art, an die Sachverhalte des Lebens heranzugehen, mag auch manche der damaligen Unfälle auf der Straße erklären: Die wenigen Menschen, die über ein Automobil verfügten, schnitten unübersichtliche Kurven, weil Erfahrung sie gelehrt hatte, daß an diesem Ort und zu dieser Stunde ein entgegenkommendes Fahrzeug ausgesprochen unwahrscheinlich sei. Oder sie wußten aus eigener Anschauung, daß trotz hoher Geschwindigkeiten aus dieser Kurve noch nie einer rausgeflogen war. So kann man auch die Gedenksteine (oder Marterln) als eine Art Verkehrszeichen verstehen - in dem Sinn nämlich, daß sie dem Kundigen anzeigen: Hier ist schon mal jemand aus der Kurve geflogen, geh ein Stück vom Gas runter.
Sie mögen lachen und an soviel Seinszuversicht nicht glauben wollen. Ein Bekannter, drauf aufmerksam gemacht, daß er beim Linksabbiegen in sein Grundstück am Stadtrand nie blin­ken würde, gab zur Antwort, das Blinken sei in diesem speziellen Falle nicht nö­tig, da ohnehin jeder wisse, daß er hier immer in sein Grundstück abbiege.

Montag, 6. Februar 2012

Jiu-Jitsu auf die Pädagogik gewendet

Als Mensch bleibt dir (fast) nichts erspart. Hast du Kinder, dann mußt du erleben, daß sie eines Tages vor dich hintreten und in deiner Gegenwart schmutzige, gar unflätigste Wörter verwenden. Das ist so normal wie der tägliche Aufgang der Sonne. Die Fratzen wollen austesten, wie du drauf reagierst. Die meisten Eltern - habe ich mir sagen lassen - die mit Wörtern wie "Arsch" und "ficken" aus dem Mund ihrer Lendenfrüchte konfrontiert werden, reagieren darauf mit dem gleichermaßen ungehaltenen wie strikten Verbot, dergleichen schmutzige Wörter zu verwenden, wohl wissend, daß ein solches Verbot schon in ihrer eigenen Kindheit nicht funktioniert hat [1].
Als meine Söhne mich seinerzeit (als Mensch bleibt dir, wie gesagt, fast nichts erspart) mit Wörtern wie "Arsch" und "ficken" etc. konfrontiert haben, habe ich auf einen Schelmen anderthalbe gesetzt. Meiner erzieherischen Verantwortung wohlbewußt antwortete ich, locker parlierend, mit Wörtern wie "Arschficken". Ich sprach über grobe Sachverhalte mit den denkbar möglichen groben Wörtern und meine Söhne wanden sich vor Verlegenheit, ihren eigenen Vater derart grob sprechen zu hören. Ich habe mit meinen beiden Söhnen natürlich nicht in der Sprache eines Zuhälters über Weiber und Kerle, und was die manchmal so miteinander treiben, gesprochen. Ich habe vielmehr über Gossensprache und ihre Verwendung geredet und dabei bewußt grobe bis sehr grobe Formulierungen verwendet.
Mein hinterfotziges pädagogisches Konzept ging auf. Von Stund an hörte ich keine groben Wörter mehr von ihnen, es wäre denn in Anführungszeichen, wenn wir nämlich über grobe Wortwahl sprachen. Wie sie unter Gleichaltrigen sprachen weiß ich nicht, ich war nicht dabei. Und wäre ich dabei gewesen, so hätte ich sie nicht verstanden. Meine Kenntnis des Gossen-Italienisch ist begrenzt, vom Cilentano (dem regionalen, dem Neapolitanischen verwandten Dialekt) ganz zu schweigen. Ich weiß nur noch, daß ich sie mehrmals (aus rein wissenschaftlichem Interesse, versteht sich) gebeten hatte, mich die gängigsten (süd-)italienischen Wörter aus der Gossensprache zu lehren. Sie haben sich, schamrot, geweigert, dies zu tun. (Sie kannten sie also, das Mindeste, was man von aufgeweckten Jugendlichen erwarten darf.)
Inzwischen sind sie längst erwachsen und können sich in zwei Sprachen, dazu zwei Dialekten (bairisch und cilentano) von einer Stilebene (Analkoitus) locker in die andere (Arschficken) wechselnd, verständlich machen.

Ach so, ja, falls einer die Überschrift nicht versteht:
Jiu-Jitsu ist eine japanische Technik der Selbstverteidigung. Der Grundgedanke ist, dem kraftvollen Schlag des Angreifers nicht die eigene abwehrende Kraft entgegenzusetzen, sondern die Kraft des Gegners so umzulenken, daß sie sich gegen den Angreifer wendet.


[1]   Es ist eines der faszinierendsten Sachverhalte menschlicher Psychologie: Seit Jahrtausenden konfrontieren Eltern ihre Kinder mit Ge- und Verboten, welche diese Eltern im entsprechenden Alter selbst mißachtet haben. Den Menschen als intelligentes Lebewesen zu bezeichnen, erscheint unter diesen Umständen als doch eher gewagt.

Mittwoch, 1. Februar 2012

Lebt Loriot noch?

Heute wollte ich in der ARD-Mediathek ein bißchen in die gestrige Diskussion bei Sandra Maischberger über - wieder mal - Wulff reinhören. Um es kurz zu machen: Es wurde nichts draus, ich bin bereits bei der Vorstellung der Diskussions-Teilnehmer hängengeblieben und schreibe jetzt diesen Beitrag, statt mir die Sendung reinzupfeifen.
Die drei Mädels in der Runde - Lilo Fischer, Lea Rosh und die Maischberger herself - waren optisch soweit unauffällig, sieht man mal von den doch sehr tubenroten Haaren von Frau Fischer ab. Aber die drei Herren im Studio...

Da war zum einen Dieter Wedel, der Regisseur. Mit wirrem Haar, unrasiert und verkatert dreinblickend sah er aus, als hätte man ihn eben grade aus der Mülltonne gezogen und ins Studio getragen. Ich bin nun selber keiner, der auf tadelloses Aussehen sonderlichen Wert legt, ich erwarte das auch nicht von anderen. Morgens, oft auch zu anderen Tageszeiten, sehe ich in etwa so aus wie Dieter Wedel. Aber, wahrlich, wahrlich ich sage euch: Wenn ich eines Tages aus wirren Träumen erwachte, mich in einem Fernsehstudio wiederfände und mich selbst auf dem Monitor sähe, so würde ich als erstes, ganz spontan, in mein Haupthaar langen und es glätten. Daß es zum Rasieren zu spät ist, würde ich seufzend akzeptieren.


Als nächster kam Prof. Arnulf Baring, der Historiker, ins Bild. Er, der sonst in Diskussionen wirkt, als habe er eine Überdosis Speed eingeworfen, saß da, die Augen geschlossen, ab und an mit dem Kopf nickend, wie ein mit sich und der Welt zufriedener Narr. Einen Moment lang hatte ich den Eindruck, er würde noch während der Sendung, wahrscheinlich in den nächsten Minuten, sanft und für immer entschlummern.
Damit hätte es nun des Grotesken genug sein können. Manchmal aber ist das Echte & Wahre Leben unersättlich.


Als nächster nämlich wurde der SPD-Abgeordnete Karl Lauterbach vorgestellt. Stocksteif saß er da, mit aufgerissenen Augen, die einige Sekunden lang nicht einmal blinzelten. Nur der Kopf wackelte leicht; vor - zurück - vor - zurück. Dazu die Fliege, das sichere Zeichen, daß wir im Reich von Satire und Humor sind (1).
Diese Sendung ist nicht echt! Sie kann nie & nimmer echt sein, dachte ich, wider jede Evidenz. Das ist lupenreiner Loriot, so grotesk ist die Wirklichkeit nicht, nicht in dieser dichten Aufeinanderfolge.
Dabei sollte ich es wirklich besser wissen, inzwischen.

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1 Ich schwöre, daß ich die Screenshots nicht heimtückisch ausgewählt habe, ich habe nicht jeweils das Standbild genommen, auf dem die drei Männer am skurrilsten ausgesehen haben, die saßen wirklich sekundenlang so da. Wer es nicht glaubt, kann sich hier die Sendung selber ansehen.