Samstag, 19. November 2011

Die Wahrheit als Panne

Das Volk ist in der Demokratie der Empfänger von Macht, nicht ihr Ursprung
 
Was Wahrheit letztendlich und eigentlich ist, ob es überhaupt eine gibt und wenn ja, ob wir diese je erkennen können, und - falls wiederum ja - wie diese Wahrheit nun genau aussieht - darüber haben sich Generationen von Philosophen Gedanken gemacht. Eine Lösung hat bislang offensichtlich noch keiner gefunden, denn hätte es einer, so gäbe es nur noch 1 Philosophie, und zwar die richtige.
Nach langem Grübeln über das Leben, das Universum und den ganzen Rest bin ich für mich zu dem Ergebnis gekommen, daß wir niemals hinter die Wahrheit kommen werden und daß das auch ganz gut ist. Ich bin zum Anhänger des Jameiismus geworden, welcher besagt: Ja mei, da kannst nix machen, es is halt wies is.

Daß die Frage nach der Wahrheit immer noch unbeantwortet ist, sollte niemanden mehr freuen als die Philosophen selber. Die ewige Suche nach der Wahrheit ist für einen berufsmäßigen Philosophen nämlich ein wesentlich günstigeres Geschäftsmodell als ihr Finden. Käme tatsächlich einer dahinter, woher wir kommen, wohin wir gehen und welcher Sinn in dem Schlamassel dazwischen steckt, und könnte er zudem seine Antwort auch stichhaltig und unwiderleglich beweisen, so wäre die Luft aus aller Philosophie und Theologie heraus.
Aus, Äpfel, Amen. "Laden zu vermieten - Wegen mangelnder Nachfrage mußten wir die Firma 'Sein & Nichts GbR - Sinn en gros und en detail' leider schließen."
Wer den verlinkten Wikipedia-Artikel durchliest, wird merken, daß meine Schlußfolgerung natürlich Unsinn ist. So klar und eindeutig kann eine Antwort gar nicht sein, daß sich nicht doch Leute fänden, die nach der Antwort hinter der Antwort suchen.
Douglas Adams hat sich mit seiner Episode vom Computer Deep Thought (siehe wiederum den obigen Link auf die Wikipedia) über die Sinnsucher lustig gemacht. Nach einer Rechenzeit von 7,5 Millionen Jahren liefert der Supercomputer die Antwort: 42. Diese Antwort aber, so verkündet der Computer, bleibe sinnlos, solange man nicht die dazu passende Frage genau formuliert habe. Im weiteren Verlauf des Romans kommt der Held des Romans zufällig hinter die passende Frage: "Wie viel ist neun multipliziert mit sechs?". Wer das kleine Einmaleins noch im Kopf hat, dem wird auffallen, daß die Frage nicht zur Antwort paßt. Klar, Adams macht sich über die Sinnsucher lustig.
Und was passiert? Adams hätte es sich absurder nicht ausdenken können: Rudel von Sinnsuchern versuchen, hinter das Geheimnis der von Adams formulierten Lösung 42 zu kommen. Sie bemühen Lewis Carroll [1], das 13er-Zahlensystem, die Weisheit tibetischer Mönche etc., um auf die Spur eines bewußt formulierten Unsinns zu kommen. Adams selbst merkt dazu an: "Die Antwort darauf ist ganz einfach. Es war ein Scherz. Es musste eine Zahl sein, eine gewöhnliche, relativ kleine Zahl, und ich entschied mich für diese. Binäre Darstellungen, Basis 13, Tibetische Mönche, das ist alles kompletter Unsinn. Ich saß an meinem Schreibtisch, blickte in den Garten hinaus und dachte ‚42 wird gehen‘. Ich schrieb es hin. Ende der Geschichte." Dem wahren Sinnsucher jedoch ist klar, daß das nur ein Täuschungsmanöver von Adams sein kann, eine Finte, um die eigentliche Wahrheit zu schützen.
Was lernen wir daraus? Wer bekannt genug ist, um überhaupt wahrgenommen zu werden, der kann sagen und schreiben, was er will, er kann sogar ausdrücklich hinzufügen, daß all das, was er geschrieben habe, ein übermütiger Scherz gewesen sei - es nützt nichts. Einer hermeneutet immer.

Aber, Leute, ich habe mich verschwatzt. Eigentlich nämlich wollte ich von Peter Gauweiler erzählen, der einmal aus Versehen die Wahrheit gesagt hat.
Um die Jahrtausendwende hatte die CDU mit einer der üblichen, routinemäßigen Finanz- und Spendenaffären zu kämpfen. Im Januar 2000 hat Peter Gauweiler der Passauer Neuen Presse dazu ein Interview gegeben.
Dabei ist ihm ein Satz entschlüpft, den der zuständige Redakteur für so wichtig hielt, daß er ihn als Überschrift zum Interview wählte:
"Wir müssen dem Volk wieder mehr Macht geben."
In diesem kleinen Satz eines kompetenten Menschen [2] ist die ganze Wahrheit über die politische Realität der Bundesrepublik Deutschland enthalten.
Im Grundgesetz findet sich der lakonische Satz: "Alle Staatsgewalt geht vom Volke aus." Der Dichter Bertolt Brecht hat diesen Satz einmal um eine Frage ergänzt: "Wo aber geht sie hin?"
Zu Peter Gauweiler und seinen Freunden in Politik und Wirtschaft geht sie hin. Das wissen wir zwar schon lange, aber die Mächtigen in diesem Lande blasen normalerweise empört die Backen auf, wenn einer dergleichen behauptet. Sie verdächtigen ihn, er wolle eine andere Republik, eine andere Demokratie und natürlich haben sie recht mit diesem Verdacht. Nun aber hat einer aus dem Inneren Zirkel der Macht sein Nähkästchen geöffnet und uns plaudernd bestätigt, was wir bereits wissen.
Denn eines ist klar: Nur wer die Macht hat, kann ein Stückchen davon dem Volk abgeben.
Ich habe damals einen Leserbrief an die Passauer Neue Presse geschrieben, der Leserbrief wurde nicht abgedruckt (sie haben damals die meisten meiner Leserbriefe abgedruckt, das nebenbei). Und einen Internetanschluß hatte ich seinerzeit noch nicht. Denn das Internet vermag, recht genutzt, einiges in Bewegung zu bringen, was sonst unbeweglich geblieben wäre.

Als seinerzeit Bundespräsident Köhler in einem Rundfunk-Interview ein streng gehütetes Staatsgeheimnis ausplauderte, wurde er unverzüglich aus dem Amt gemobbt. Das Staatsgeheimnis war, daß Deutschland nicht wegen der Menschenrechte in Afghanistan Krieg führt, sondern in Wirklichkeit zur Wahrung seiner wirtschaftlichen Interessen [3]. Dieses Geheimnis kennt zwar jeder, der sich fünf Minuten Zeit nimmt, drüber nachzudenken, aber unter Politikern war (und ist) es strengster Comment, darüber nicht öffentlich zu sprechen.
Köhler hatte ein Tabu gebrochen, er hatte die große Lebenslüge bundesdeutscher Außenpolitik in die allgemeine Diskussion gezerrt. Der Skandal war nicht, daß er etwas Falsches gesagt hätte, er hat im Gegenteil etwas sehr, sehr Richtiges ausgesprochen, was aus Sicht der politischen Klasse besser ungesagt geblieben wäre.
Ich darf an dieser Stelle an das bekannte Wort von George Bernard Shaw erinnern: "Die Lebenserfahrung, diese Wissenschaft nach Hausmacher-Art, lehrt die von ihr Befallenen, daß es nicht die gänzlich neuen, für alle völlig überraschenden Nachrichten und Erkenntnisse sind, die aufgeregten Wirbel verursachen. Verblüffende Neuigkeiten machen uns allenfalls staunen, wirkliche und nachhaltige Empörung hingegen lösen jene Tatsachen aus, die jedermann längst bekannt sind, die lediglich von irgend jemandem irgendwann einmal ausgesprochen werden."
Wobei der Verplapperer von Köhler zunächst mal gar keine Empörung, noch nicht mal Wirbel verursacht hat. Keiner von den bekannten oder weniger bekannten Kommentatoren in den großen oder weniger großen Zeitungen oder Rundfunkanstalten hat sich darüber aufgeregt oder die Aussage auch nur erwähnt. In den Medien wurden die Äußerungen Köhlers nicht weiter beachtet, man könnte auch sagen, sie wurden totgeschwiegen. Das ging so weit, daß der Deutschlandfunk, der das entsprechende Interview gesendet hatte, auf seiner Website zunächst eine komplette Version des gesendeten Interviews brachte, nach einigen Stunden jedoch war an dieser Stelle eine geschnittene Fassung des Interviews zu hören, in welcher der brisante Satz fehlte!
Lediglich im Internet haben einige Blogger (unter anderem ein gewisser mcmac im "Freitag") das Thema aufgegriffen und die Leute auf diese Äußerung aufmerksam gemacht. Erst als im Netz die Wogen der Empörung so hochkochten, daß man sie nicht mehr ignorieren konnte, griffen auch die Medien die Geschichte auf.
Man hat die Affäre sehr geschickt gelöst, indem man Köhler zum Rücktritt veranlaßte. Durch seinen Rücktritt wurde viel über den Rücktritt und das durch die Kritik an Köhler angeblich beschädigte Amt gesprochen. Das eigentlich Interessante an dieser Geschichte, der Satz nämlich, der letztlich zum Rücktritt geführt hatte, wurde dadurch überwirbelt und unsichtbar gemacht und ist nach anderthalb Jahren bereits so gut wie vergessen.

Was man aus der Geschichte um Peter Gauweiler lernen kann? Ich glaube, es war Hercule Poirot, der einmal sinngemäß sagte: Wenn man sich mit den Leuten lange genug unterhalte, sie einfach plaudern lasse und ihnen aufmerksam zuhöre, dann komme man hinter ihre verborgenen Geheimnisse. Irgendwann verplappere sich jeder.


[1]   Lewis Carroll ist der Verfasser von "Alice im Wunderland" und war im Zivilberuf Mathematiker.
[2]   Das meine ich jetzt ernst und gar nicht sarkastisch.
[3]   "Meine Einschätzung ist aber, daß insgesamt wir auf dem Wege sind, doch auch in der Breite der Gesellschaft zu verstehen, daß ein Land unserer Größe mit dieser Außenhandelsorientierung und damit auch Außenhandelsabhängigkeit auch wissen muß, daß im Zweifel, im Notfall auch militärischer Einsatz notwendig ist, um unsere Interessen zu wahren, zum Beispiel freie Handelswege, zum Beispiel ganze regionale Instabilitäten zu verhindern, die mit Sicherheit dann auch auf unsere Chancen zurückschlagen negativ, bei uns durch Handel Arbeitsplätze und Einkommen zu sichern."

Mittwoch, 16. November 2011

Der Diktator als junger Mann

Die wenigsten werden es wissen, aber Muammar al Ghaddafi hatte in jungen Jahren schwer um seinen Lebensunterhalt zu kämpfen. Das ging so weit, daß er sich in Deutschland als Schauspieler verdingen mußte, um leidlich über die Runden zu kommen.
So was glaubt mir natürlich wieder mal kein Schwein, wie immer. Ich aber, wahrlich ich sage euch, ich habe Beweise.
Im Tatort "Kurzschluß" [1] spielt Ghaddafi, unter dem Künstlernamen Dieter Laser einen Bankräuber.



[1]        Regie Wolfgang Petersen, Klaus Schwarzkopf als Kommissar Finke, Günter Lamprecht als Landpolizist, und auch ansonsten hervorragend besetzt. Ein Juwel der Filmkunst, das meine ich ernst.

Dienstag, 8. November 2011

Vom Schreiben und vom Reden

1997 hielt der aus Film, Funk und Fernsehen wohlbekannte Philosoph Prof. Dr. Peter Sloterdijk auf dem 71. Bachfest der Neuen Bachgesellschaft e.V., Freiburg, einen ca. dreiviertelstündigen Vortrag mit dem Titel "Über das Hören". Der Vortrag wurde vom Südwestfunk aufgezeichnet und in der Tele-Akademie ausgestrahlt. Die Rede ist auch auf YouTube zu hören. Mir wurde diese Rede über einen Link anempfohlen und ich habe sie mir angehört.

Nein, ich will nicht lügen. Ich habe diese Rede nur an-gehört und dann, nach wenigen Sätzen, wieder aufgehört mit Hören.
Das lag nur zum geringeren Teil daran, daß Prof. Sloterdijk, im Gegensatz zu den Professoren, mit denen ich in Regensburg zu tun hatte, ganz offensichtlich kein begnadeter Vortragskünstler ist. Ich habe Mitleid mit seinen Studenten, die wohl oder übel in seine Vorlesungen gehen müssen. Einen derart einschläfernden Tonfall habe ich lange nicht mehr gehört, nicht mal der bayerische Wirtschaftsminister Zeil (und der ist ein Schlafmittel der Sonderklasse) kann hier mithalten.

Es war der Inhalt, der mich aufschreckte, und am Einschlafen hinderte. Der Vortrag beginnt nämlich mit folgenden Sätzen:
"Unter den Gebärden des Rechts auf Ergreifendürfen tritt von alters her die Macht als Wahrheit auf. Jedoch - in der Verweigerung der Ergriffenheit kommt die mühevoll erworbene strategische Klugheit zur Geltung, die weiß, daß durch das gutgläubige Ohr auch die Lügen gehen. Durch Widerstand wird das Subjekt geboren, als Kraftpunkt einer Nichtergriffenheit. Nach den psychohistorischen Standards der letzten zweieinhalb tausend Jahre kann als erwachsen zunächst nur gelten, wer sich einem umfassenden Defaszinationstraining unterworfen hat. In dem soll das Subjekt bis an die Schwelle gebracht werden, an der für es ein unergriffener Umgang mit einverständnisfordernden rhetorischen und musischen Verführungen möglich wird."
Leute, jetzt mal ganz im Ernst, kein Scheiß: Wenn ein Vortrag so beginnt, dann ist es Zeit, aufzustehen und in die nächste Kneipe zu gehen. Hohleres Geschwätz werdet ihr dort auch nicht hören, die Gäste mögen so besoffen sein, wie sie nur wollen.
Sicher, in der Kneipe wird das Geschwätz nicht auf diesem hohen sprachlichen Niveau wie bei Sloterdijk sein, es wäre denn, ich geriete zufällig in eine Intellektuellenkneipe. Intellektuelle sind auch mit hohen Promillewerten noch in der Lage, so zu sprechen, daß du als Nüchterner nichts, aber auch überhaupt nichts, verstehst. Dabei ist klar, daß eine solche Sprache, Promille hin oder her, eine Kunstfertigkeit voraussetzt, die auf Universitäten oder im Selbststudium mühsam erworben werden muß. Hat man sich diese sprachliche Kunstfertigkeit aber einmal angeeignet, dann wird die Verwendung dieser Sprache zu einer Methode, eigene gedankliche Schlamperei zu verbergen. Denn, machen wir uns nichts vor, kompliziert zu formulieren ist eine schnelle Sache für einen mit allen Salben geriebenen Akademiker, so etwas wird ihm zumindest in den Sozial- und Geisteswissenschaften antrainiert. Und weil der komplizierte Jargon auch noch so wunderhübsch klingt, dir jeder Kollege auf die Schulter klopft und "Toll, ganz toll, das" murmelt, kannst du dir einreden, du hättest alles ganz wunderbar durchdacht.
Nach meiner Erfahrung ist das Gegenteil der Fall: In der Oberstufe des Gymnasiums, als die Mathematik allmählich doch kompliziert wurde, habe ich für Klassenkameraden, die also auf gleichem Vorbildungsniveau waren wie ich, mit der Infinitesimalrechnung und Analytischen Geometrie aber nicht so gut zurande kamen (kostenlose) Nachhilfe gegeben. Manchmal habe ich lange geredet und keinen Durchbruch erzielt, es blieb Verständnislosigkeit zurück. Ich habe dann meine Erklärungen immer einfacher formuliert und irgendwann hat's dann doch "klick" gemacht und die anderen hatten verstanden. Und genau an diesem Punkt hat's auch bei mir "klick" gemacht - plötzlich hatte ich selbst verstanden, wirklich verstanden, was ich zuvor den anderen zu erklären versucht hatte.
Später, wenn ich einen nicht ganz platten Gedanken niederzuschreiben hatte, bestand die erste Fassung meines Textes in aller Regel aus langen, in viele Nebensätze verschachtelten Sätzen, die viele komplizierte Begriffe enthielten. Diese Fassung, die niederzuschreiben für mich relativ einfach war, wäre für andere nur schwer und mit großer Konzentration zu verstehen gewesen. Im Zuge der Überarbeitung wurden die Sätze kürzer, die Nebensätze wurden zu eigenen Sätzen, die komplizierten Wörter wurden durch einfachere ersetzt und nicht zu vermeidende komplizierte Begriffe sauber und möglichst einfach erklärt. Diese Überarbeitung kostete mich Mühe, manchmal große Mühe, das Ergebnis aber war nun angenehm zu lesen und relativ leicht zu verstehen.
Was mir dabei aufgefallen ist: Vorher war ich zu dieser einfachen Formulierung nicht imstande, denn am Anfang meines Schreib- und Denkprozesses hatte ich das, was ich mitteilen wollte, selber noch nicht richtig verstanden. Und das heißt: Je besser ich eine Sache verstehe, desto einfacher, sprich: verständlicher, kann ich sie darstellen.
Einfacher Stil ist also nicht nur ein Service am Leser, sondern auch ein Dienst an mir als Autor. Erst wenn die Sache einfach dasteht verstehe ich selber, was ich mir so gedacht hatte. Das ist keine Koketterie, sondern aus der Selbstbeobachtung abgeleitet.

Ich übersetze die ersten beiden Sätze von Sloterdijk so in Alltagsdeutsch: "Wer die Macht hat, behauptet von sich gerne, er habe und sage die Wahrheit. Wir aber wissen aus Erfahrung, daß das auch gelogen sein kann." Dagegen läßt sich nichts einwenden.
Die folgenden zitierten Sätze sind dagegen eine freche Lüge. In keiner Bildungseinrichtung, von der Grundschule bis zur Universität, wird systematisch ein Defaszinationstraining angeboten. Ganz im Gegenteil: Hast du Glück, verdammt viel Glück, dann bekommst du für eine gewisse Zeit einen Lehrer, der dich zur Skepsis gegenüber genau jener Ergriffenheit heischenden Imponiersprache anleitet, die Sloterdijk im Vortrag selber anwendet. Im Normalfall aber hast du kein Glück, du lernst vielmehr, den Blähsprech von Sloterdijk und anderen Großdenkern für gedankentief zu halten und als Philosophie zu verehren.
In meinen Studentenzeiten kannte ich einen Kommilitonen, der mir auf die Frage, was ich von einem bestimmten Buch eines bestimmten Autors [1] zu halten hätte, antwortete: "Ganz hervorragend, das Buch, ich habe kein Wort verstanden." Nein, Leute, tut alle Hoffnung ab, das war nicht ironisch gemeint von ihm.

Gegen Sloterdijks erste beiden Sätze läßt sich, wie gesagt, nichts einwenden, denn sie formulieren eine in ihrer Plattheit nicht zu bestreitende Wahrheit. Das ist kein Sarkasmus meinerseits, denn natürlich läßt sich nicht prinzipiell etwas gegen das Aussprechen von Plattheiten sagen. Manchmal, und gar nicht mal so selten, ist es schlicht notwendig, in einer Argumentation einige Selbstverständlichkeiten zusammenzufassen, um dann, von diesen Plattheiten ausgehend, einen differenzierten und vielleicht sogar neuen Gedankengang zu entwickeln. Die ausgesprochenen Plattheiten dienen dazu, Einverständnis herzustellen, bzw. zu überprüfen, ob Einverständnis besteht: Hier, auf dieser niedrigen Ebene, sind wir uns noch alle einig, jetzt schaumermal, ab wann sich Widerspruch zum von mir Vorgetragenen einstellt.
Nichts gegen Plattheiten also, die werfe ich Sloterdijk gar nicht vor. Was ihm vorzuwerfen ist der Umstand, daß er diese Plattheiten so formuliert hat, als handele es sich um kostbare Wahrheiten. Er hat die Todsünde jedes Menschen begangen, der einen Text schreibt: Er hat seinen Text komplizierter formuliert als es unbedingt nötig gewesen wäre.

Ich weiß nicht, ob Sloterdijk den vorgetragenen Text ursprünglich für die Veröffentlichung als Buch oder Zeitschriftenbeitrag verfaßt hat, oder ob es sich von vorneherein um ein Redemanuskript handelt. Es spielt auch nicht die wirklich große Rolle. Wichtig ist nur, daß ihm klar war, klar sein mußte, daß er diesen Text zu einem bestimmten Zeitpunkt als Rede halten würde.
Schon zu meiner Studentenzeit, die inzwischen auch schon wieder geraume Zeit zurückliegt, war es unter Kommunikationswissenschaftlern eine... hmnja, Plattheit, daß eine Rede keine Schreibe ist. Das heißt, es ist eine völlig andere Kommunikationssituation ob ich einen geschriebenen Text in einer Zeitschrift oder einem Internet-Forum veröffentliche oder ob ich ihn als gesprochenen Text einem anwesenden Publikum vortrage.
Habe ich einen geschriebenen Text vor mir, so kann ich zum einen meine Lesegeschwindigkeit selber bestimmen; bestimmte Passagen lese ich einfach locker weg, bei anderen muß ich erst mal - und seien es nur wenige Sekunden - drüber nachdenken, ehe ich sinnvoll weiterlesen kann. Dieses Innehalten um nachzudenken ist manchmal auch bei einem einfach formulierten, also sorgfältig durchdachten Text nötig, schlicht deshalb, weil die Sache selbst nicht so ganz einfach ist.
Zum anderen kann ich bei einem geschriebenen Text nach Belieben zurück oder nach vorne blättern, wenn mir etwas unklar bleibt. Bei einem Vortrag ist das nicht möglich [2]. Kompakte Formulierungen, bei denen der Inhalt dichtestmöglich zusammengedrängt ist, Sätze, die lang und verschachtelt sind, sind für einen Vortrag tödlich.
Geschriebene Sprache kann redundant sein, also dasselbe mehrmals auf verschiedene Weise - einmal etwa abstrakt, das andere mal anhand von Beispielen - erklären. Redundanz macht einen Text angenehm zu lesen, und ein angenehm zu lesender Text ist eine Geste der Höflichkeit und Wertschätzung des Schreibenden gegenüber dem Leser. Ein Vortrag muß redundant sein, ansonsten ist er nur für Zuhörer geeignet, die ohnehin bereits wissen, was der Vortragende sagen wird. In diesem Falle aber ist der Vortrag überflüssig.

Ich verstoße allerdings selber gerne gegen die an sich beherzigenswerte Formel, daß eine Schreibe keine Rede sei. Geschriebenes formuliere ich oft so, als säße mir der Leser gegenüber und ich würde mit ihm von Angesicht zu Angesicht sprechen. Ich gestehe, daß dies eine ausgesprochen egoistische Gewohnheit ist. Zum einen möchte ich über dem Korrekturlesen nicht einschlafen, sondern ein gewisses Vergnügen daran haben. Zum anderen aber - und dies vor allem - möchte ich das, was ich schreibe, selber verstehen.
Ich weiß, ich verlange viel.


[1]   Ich habe Gott sei Dank vergessen, um welches Buch, um welchen Autor es sich handelte.
[2]   Allenfalls, wenn ich ihn als Aufzeichnung höre.

Dienstag, 1. November 2011

Der Wimmer Dammerl über Ehe und Krieg

Thomas Wimmer (1887 - 1964) war von 1948 bis 1960 Oberbürgermeister von München. Er hatte 1913 geheiratet, nach dem Tod seiner ersten Frau heiratete er 1938 erneut.
1939 soll er gesagt haben: "Jedesmal, wenn ich heirate, bricht's Jahr drauf der Krieg aus."

Der Verlauf der Geschichte hat uns gelehrt, daß Thomas Wimmer kein drittes Mal geheiratet hat. Und wir alle sollten uns freuen, daß die Wimmersche Heiratsregel nicht für Gerhard Schröder oder gar Joschka Fischer gilt.