Donnerstag, 6. Oktober 2011

...und links, zwei, drei...

Gespräch mit dem Verkehrsexperten Volker Völz

Herr Völz, seit einigen Jahren sind auf deutschen Autobahnen die notorischen Linksfahrer zu einem echten Problem geworden.

Linksfahrer sind nicht neu. Seit es Autobahnen gibt, halten sich manche Autofahrer nahezu ausschließlich auf der linken Spur auf.

Inzwischen aber sind die notorischen Linksfahrer zu einem ausgesprochenen Massenphänomen geworden. In schöner Regelmäßigkeit kann man sie auf zwar dicht befahrenen, vom Kollaps aber noch ein Stück entfernten Autobahnabschnitten beobachten. Während die rechte Fahrspur nur von einigen Lkw und Kleinst-Pkw benutzt wird, drängeln sich auf der linken Überholspur die Wagen - und keiner kommt mehr richtig voran, weil die Autobahn künstlich verstopft ist, da sie nur noch zur Hälfte genutzt wird. Ist doch verrückt, so was.

Das Wort "verrückt" erklärt nichts. Wer es benutzt, weigert sich, über die Gründe für ein bestimmtes Verhalten nachzudenken.

Dann erklären Sie mir bitte die möglichen Gründe für so ein "ver­rück­tes" Verhalten der Linksfahrer.

Alle verhalten sich "verrückt", weil alle es für wahnsinnig "ver­rückt" halten, wie sich alle verhalten.

Entschuldigen Sie, aber ein Paradox zu verwenden, ist mindestens genauso ausweichend wie die Verwendung des Wortes "verrückt".

Also gut: Wenn Sie als Autofahrer auf eine solche halb genutzte...

...halb verstopfte...

...Autobahn kommen - was machen Sie dann?

Ich ärgere mich.

Das ist Ihr Gemütszustand. Was aber tun Sie? Welche Spur benutzen Sie?

Die linke natürlich.

Natürlich, weil die linke Spur die immer noch schnellere ist.

Nun, eigentlich... eigentlich ist sie das irgendwann nicht mehr.

Dann könnten Sie aber "eigentlich" auf die rechte Spur wechseln. Die ist, wenn nicht schneller, so doch immerhin sicherer, wegen der größeren Abstände zwischen den Wägen.

Nun...

Aber Sie tun es nicht. Richtig?

Richtig. Jetzt, wo Sie das sagen... Eigentlich merkwürdig.

Versuchen wir, der Sache auf die Spur zu kommen. Stellen Sie sich vor, Sie fahren auf einer noch normal funktionierenden Autobahn. Weil Sie entschlossen sind, sich an Vernunft und Straßenverkehrsordnung zu orientieren, fahren Sie rechts und halten die empfohlene Richtgeschwindigkeit von 130 km/h ein. Bevor Sie den Lkw vor Ihnen überholen, blinken Sie - und werden von einer sich ungemein rasch nähernden Lichtorgel angeflammt. Die Lichtorgel entpuppt sich als 7er-BMW, der gerade sein Menschenrecht auf 260 km/h wahrnimmt.

Rücksichtslos, wie solche Leute sind, läßt er mich natürlich nicht raus.

Der ist nicht rücksichtslos, sondern einfach wahnsinnig schnell. Der könnte Sie gar nicht mehr reinlassen, selbst wenn er wollte.

Ich verstehe.

Ist der BMW vorüber, können Sie den Lkw überholen, um anschließend brav auf die rechte Spur zurückzukehren.

Ein einfacher Vorgang.

Schon. In Wirklichkeit aber gibt es auf einer gutbesuchten Autobahn viele Wägen, die teils erheblich schneller sind als Ihre 130 km/h, denn wegen der fehlenden Geschwindigkeitsbeschränkung auf deutschen Autobahnen liegen die gefahrenen Geschwindigkeiten sehr weit auseinander, irgendwo zwischen 70 km/h und Gebrüder Schumacher. Alle schnelleren Wägen sind logischerweise häufiger am Überholen als Sie selbst. Sie werden also bei jedem Überholversuch erst mal mehrere schnellere Wä­gen vorbeilassen müssen.

Ärgerlich, so was.

Mehr als das. Denn während Sie drauf warten, daß Sie auf die linke Spur wechseln können, fahren Sie notgedrungen mit der langsameren Geschwindigkeit Ihres Vordermannes. Ihre Durchschnittsreisegeschwindigkeit sinkt dadurch um ein gutes Stück. Was machen Sie?

Was soll ich schon machen?

Sie sind ein geduldiger Mensch, ich weiß. Andere sind nicht so geduldig wie Sie. Was werden die machen?

Sie werden... Ich beginne zu verstehen: Sie werden länger auf der linken Spur bleiben, um den Vorteil des schnelleren Fahr­wegs nicht so rasch wieder zu verlieren.

Und dabei werden sie merken, daß Links­­fahren eine gute Idee ist. Noch.

Woraus folgt, daß sie sich auf der linken Spur festsetzen werden.

Richtig. Was für Sie auf der rechten Spur heißt, daß Sie wegen der nunmehr dichter befahrenen linken Spur noch länger warten müssen, ehe Sie endlich überholen können. Das kann, wenn Sie Pech haben, jedes Mal Minuten dauern. Ihre Durchschnittsreisegeschwin­digkeit sinkt weiter drastisch ab. Was werden Sie machen?

Hm, irgendwann ist der Punkt erreicht, wo ich die Geduld verliere.

So ist es. Irgendwann verliert jeder die Geduld. Und dann macht er das, was die ungeduldigeren schon längst vor ihm gemacht haben.

Auch er setzt sich auf der linken Spur fest.

Wodurch - bei leerer und leerer werdender rechter Spur - die linke Spur immer mehr verstopft. Die Geschwindigkeit dort wird zwangs­­läufig immer niedriger.

Warum aber läßt mich dann, wenn die Geschwindigkeit ohnehin schon gesunken ist, keiner von rechts nach links rüberfahren?

Weil die anderen im Recht sind. Wer grad am Überholen ist, hat Vorfahrt.

"Grad am Überholen" ist gut. Diese Art von "Überholen" zieht sich über viele Kilometer.

Ich sehe, Sie haben die Spielregel kapiert. Zig Kilometer Vorfahrt - gibt's Schöneres für einen Autofahrer?

Demnach sind diese Leute also doch rücksichtslos?

Wenn Sie es unbedingt moralisch sehen wollen. Aber es ist natürlich auch eine Frage der Sicherheit. So langsam man immer auf der linken Spur fährt, man ist, bezogen auf die Abstände zwischen den einzelnen Autos, immer noch zu schnell dran, um sich unnötige Bremsmanöver leisten zu können.

Aber dadurch ist nur die halbe Autobahn ausgelastet.

Bedauerlicherweise.

Und es bleibt nichts mehr zum wirklichen Überholen.

Weswegen viele Strecken dreispurig ausgebaut sind.

Damit dort die linke und die mittlere Spur voll sind.

So ist es.

Das ist doch Wahnsinn.

Nein, sondern tragische Unausweichlichkeit.

Das glaube ich nicht. Wenn diejenigen, die gerade links fahren, jene, die vor ihnen zum Überholen nach links wechseln wollen, herausließen, dann würde die Situation gar nicht entstehen.

Dann müßte jener aber von vorneherein langsamer sein, damit er überhaupt noch reagieren kann.

Ja und?

Auf der Autobahn will jeder so schnell fahren, wie er nur kann.

Hm. Insgesamt gesehen kommt er so aber langsamer voran. Es wäre demnach vorteilhafter für ihn, auf sein Recht zu verzichten und vor ihm Überholende rauszulassen.

Vorteilhaft wäre es nur dann, wenn es alle machen würden. Solange nur er es macht, zahlt er drauf.

Warum machen es nicht alle?

Weil keiner damit anfängt. Gehe ich zu weit, wenn ich behaupte, daß man auf deutschen Autobahnen deshalb so langsam vorankommt, weil man auf deutschen Autobahnen so schnell fährt?

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