Sonntag, 26. Juni 2011

Vom semantischen Ekel - Ernährung und Sprache

Im Internet, sagt man, lerne man wahnsinnig viel. Das ist nichts weiter als eine Redensart, aber sie stimmt natürlich. Das Angenehme dran ist, daß man im Internet auch dann was lernt, wenn man eigentlich gar nichts lernen will [1].

Ich habe im Internet das Wort "Grützwurst" gelernt. Meine erste spontane Reaktion auf dieses neue Wort war: "Grützwurst sagt man nicht". Ein Diskussionspartner stimmte mir zu, mißverstand meine Äußerung aber als Kritik an der Grützwurst als solcher.
Das aber war nicht der Punkt. Mir war es um das Wort "Grützwurst" gegangen, nicht um die Grützwurst selber, denn bis dato hatte ich gar nicht gewußt, was eine Grützwurst ist. Mein Widerwille war semantisch, vokal, auditiv. Es war das Geräusch "grütz", das bei mir eine heftige Reaktion des Widerwillens ausgelöst hatte. "Grütz" nämlich klingt wie ein Laut beim Vomitieren (das ist vornehm für "Kotzen").
Wenn ein Wirt mich fragte "Woins a Grützwurscht?" wäre meine erste, spontane Antwort: "Na!" Das ist wie mit "Rohkost" oder auch "Haferschleim". Haferschleim nämlich esse ich recht gerne, nur hatte mich die Vorstellung, Schleim zu essen, viele Jahre meines Lebens davon abgehalten, Haferschleim auch nur zu kotz... äh, kosten.
Nun machte ich mich also kundig und die Wikipedia meinte, Grützwurst, Graupenwurst oder Wurstebrei (!, ein Wahnsinnswort) sei eine in Deutschland und Polen weit verbreitete, ungeräucherte oder leicht geräucherte Kochwurst, die neben Fleisch auch Grütze, Graupen oder zerkleinerte Brötchen enthält. Das Bild zeigt je eine Berliner Blut- und Leberwurst. Nach diesem Bild und nach der Beschreibung scheinen mir diese Berliner Blut- und Leberwürste genau das zu sein, was mein Vater einst als Schlesische Blut- und Leberwürste verkauft hat. Er hatte auch Bayerische Blut- und Leberwürste im Angebot, die waren aus purem Fleisch, ohne Semmelstückerln drin, sahen insgesamt gedrungener aus und wurden in heißem Wasser gegart. Diese Dinger habe ich nie runtergebracht, gekostet zwar, dann aber davon gelassen.
Im Gegensatz zur Beschreibung der Zubereitung in der Wikipedia haben wir die Schlesischen Blut- und Leberwürste in der Pfanne gebraten, so daß die Haut (Naturdarm) schön knusprig war. Zumindest die Leberwürste waren eines meiner Lieblingsgerichte (und wären es heute noch, wenn ich sie bekäme). Ich habe stets die Fülle säuberlich rausgedrückt und gegessen, während ich die knusprige Haut beiseite gelegt habe. Die nämlich war der krönende Höhepunkt, den ich mir bis zuletzt aufheben wollte. Einmal allerdings habe ich einen Moment lang nicht aufgepaßt und - schwupp! - hatte meine Großmutter die Haut genommen und sie dem Hund gegeben. Auf meinen empörten Aufschrei hin meinte sie, sie habe gedacht, ich wolle die Haut nicht, weil ich sie zur Seite gelegt habe. Säufts.
Also: Es lebe die Grützwurst! Der Name aber ist eine Zumutung für einen poetisch empfindenden Menschen.

Mitte der achtziger Jahre waren wir im Urlaub in einem Hotel in Italien. Es gab dort ein reichhaltiges Frühstücksbüfett, abends ein Salatbüfett - eine große Vielfalt an Gemüse, schön angerichtet - bei dem sich jeder aufladen konnte, was und wieviel er wollte, dazu Essig und Öl und Saucen nach Geschmack.
Nun muß ich vorausschicken, daß ich bis dahin nie ein großer Salat- und Gemüse-Esser war. Als Metzgersohn habe ich von jeher Fleisch und Knödel und sonstige deftige Speisen vorgezogen. Hier aber habe ich reichlich aufgeladen, und hätte manchmal auf das eigentliche Essen gern verzichtet, wenn ich dafür mehr vom Salat hätte essen können.
Und dann höre ich, wie am Nebentisch ein Mann in scharfem Ton zu seinem ca. 15jährigen Sohn sagt: "Die Rohkost wird aufgegessen!"
"Rohkost" - das Wort hat mich getroffen wie ein Schlag. Freilich, wenn man das Zeug "Rohkost" nennt und den Leuten aufzwingt, dann mag es natürlich keiner mehr essen. Das Gemüse war hier für mich ein Genußmittel allererster Sahne, das Wort "Rohkost" aber schmeckt derart nach Verzicht, Vernunft und Gesundheit, daß es - bei Heranwachsenden gleich gar - semantischen Ekel vor absolut geilen Sachen erzeugen kann.
Oder nimm den Spinat. Spinat ist ganz was Feines. Wenn man den Kindern nicht viel zu oft erzählt hätte, daß Spinat soooo gesund wäre und also unbedingt aufgegessen werden müsse, würden sie ihn auch als Erwachsene noch mit Behagen essen.
Entgegen anderslautenden Gerüchten nämlich sind Kinder alles andere als dumm. Sie lernen sehr schnell und wenn ein Erwachsener an einer Speise die Gesundheit rühmt, dann weiß das welterfahrene Kind, daß das Zeug nicht schmeckt, ansonsten man ja den Geschmack priese und nicht die Gesundheit.

Kinder, die regelmäßig den Salat stehen lassen, bekommen irgendwann keinen mehr vorgesetzt. Dann fragen sie eines Tages selber nach, wieso sie keinen bekommen, die anderen aber schon...

"Man muß also", fragte mein Internet-Diskussionspartner, "den Kindern erzählen, daß Hamburger, Pommfritz und Fischstäbchen unheimlich gesund sind?"
"So in etwa", antwortete ich. "Wenn du ihnen erzählst, daß Karotten noch nichts für kleine Kinder sind, dann fressen sie dir die Möhren direkt aus der Einkaufstüte."


[1]   Irgendwann, so hoffe ich, wird sich dieses endgeile pädagogische Prinzip bis zur Schule jenseits von Summerhill durchgesprochen haben.

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